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Nicole Ray

Die 2. Chance

Noch einmal neu anzufangen, davon träumen viele. Doch sich wirklich dafür zu entscheiden, ist extrem schwer.

Geschichten über Menschen, die ihr Leben von einem Tag auf den anderen radikal neu begonnen haben, haben mich immer fasziniert. Zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehört deshalb bis heute das amerikanische Buch „How To Disappear Completely and Never Be Found“, auf das ich einmal zufällig bei einem New York-Besuch gestoßen bin. In typisch amerikanisch-pragmatischer Art und Weise beschreibt darin der Journalist Doug Richmond, was man tun muss, um sich aus seinem Leben in seiner derzeitigen Form zu verabschieden und wie man dann mit einer neuen Identität ausgestattet an einem anderen Ort neu beginnen kann. Kapitel wie „Planning to Disappear“, „Do It Alone“, „Money“, „Leaving the Country“ oder „Fake Identity“ sollen dem potentiellen Aussteiger oder der Aussteigerin das notwendige Handwerkszeug vermitteln, um erfolgreich von einem Leben in das nächste überwechseln zu können. Und ein Highlight in dem Buch sind auch die anonymisierten Interviews mit Menschen, die diese radikale Form des Neuanfangs gewagt haben. Ungeschönt erzählen sie über ihre Beweggründe auszusteigen und wie es ihnen gelungen ist auf diese Weise noch einmal ganz von vorn anzufangen.
Mit moralischen Maßstäben darf man diese Menschen - überwiegend sind es übrigens Männer - freilich nicht messen. Sie haben oft eine Familie, Ehefrauen, Kinder und Freunde zurückgelassen und nie wieder von sich hören lassen. Aber sie haben auf extreme und radikale Weise vorgemacht, wovon andere Menschen oft ihr ganzes Leben lang vergeblich träumen: Alles hinter sich gelassen und neu angefangen.
Und ich muss zugeben, dass ich schon öfter in Gedanken durchgespielt habe, was wäre eigentlich wenn... Und mein Mann, der dieses Lieblingsbuch von mir natürlich kennt, meint deshalb auch öfter: „Aber nicht, dass Du jetzt auch irgendwann abhaust“. Nein, dazu hält mich zu viel. Denn Tatsache ist nun einmal, dass selbst vergleichsweise kleine Ausstiege, und sei es nur der Umstieg in einen anderen Beruf oder auch nur in einen anderen Job, unheimlich schwierig sind. Überhaupt in Zeiten wie diesen. Mit horrenden Arbeitslosenzahlen und einer Wirtschaft, die weiter stottert. Wer es trotzdem wagt, braucht Mut. Sehr viel Mut. „Die angespannte Lage weckt in vielen den Eifer, jetzt bloß nicht aufzufallen und ja nichts Neues anzufangen“, analysiert deshalb Martin Hilb, Professor für Personalmanagement in St. Gallen, den Ernst der Lage in der Titelgeschichte „Mut zur Zweiten Karriere. Über die Kunst, neu anzufangen“, die Anfang vergangenen Jahres im Nachrichtenmagazin „Focus“ erschienen ist.
Dabei würde es theoretisch mehr als genug Menschen geben, die gerne ihre eingefahrenen Pfade verlassen würden, berichtet „Focus“: „Die erschütternde Erkenntnis, dass sie ihr kurzes Leben an den falschen Beruf verschwenden, ereilt eine wachsende Zahl von Deutschen: Seit Jahren steigt bei der Berufsberatung des Arbeitsamts der Anteil älterer Ratsuchender, die von einer zweiten Chance träumen“, so das Nachrichtenmagazin. „Wirklich engagiert im Job sind nur noch 15 Prozent, ergab jüngst eine Untersuchung der Potsdamer Unternehmensberatung Gallup. Fast 70 Prozent leisten Dienst nach Vorschrift, der Rest hat innerlich gekündigt.“ Hubert Haas, der Vorsitzende des Berufsberater-Verbandes, bringt das Dilemma auf den Punkt: „Viele beschleicht irgendwann das Gefühl: Das kann doch jetzt nicht alles gewesen sein.“ So wie die ehemalige Bankkaufrau, die zur Lufthansa-Pilotin umsattelt, den anerkannten Archäologen, der mit 40 Jahren von einem Tag auf den anderen seinen Job hinschmeißt und heute als Kommunikationsberater arbeitet, den ehemaligen Prokuristen, der nach einer schweren Krankheit heute von Tarot-Seminaren und -büchern lebt, oder die IT-Expertin, die nach Höllenqualen, weil sie nicht weiß wie sie sich entscheiden soll, dann doch ihren Job aufgibt und eine Ausbildung zur Schauspielerin beginnt.
„Am liebsten würde ich auch aussteigen und noch einmal ganz was anderes ausprobieren“, habe ich mir damals nach Lektüre der Geschichte gedacht. Und ich wusste auch schon ganz konkret, in welche Richtung das gehen konnte. Irgendwie hatte ich das Gefühl beruflich in einer Sackgasse zu stecken, aus der es kein Entrinnen gab und die nirgendwo hinführte. Und in Wirklichkeit hatte ich dieses Gefühl schon sehr viel länger. Mit der Zeit wurde es nur immer drängender und ließ sich nicht mehr einfach so wegschieben und verleugnen. Dabei habe ich meinen Job viele Jahre hindurch wirklich gern gemacht. Doch irgendwann war da dieses bohrende Gefühl in mir, dass es das jetzt nicht gewesen sein kann.
Nicht einfacher hat die Situation gemacht, dass ich in meinem Job zwar ständig mit vielen Menschen zu tun hatte, mich aber im Grunde immer allein und als Einzelkämpferin gefühlt habe. Denn je härter die Zeiten, umso schwerer auch die Geschütze, die im Kampf um den Job aufgefahren werden. Und je erfolgreicher man ist, desto schwieriger wird‘s. Denn Erfolg ruft auch Neider auf den Plan, die zwar vordergründig kollegial und solidarisch scheinen, einen aber hinterrücks am liebsten bei der nächsten günstigen Gelegenheit freundlich lächelnd vernichten würden.
Auch ein Wort der Anerkennung (braucht schließlich jeder Mensch!) oder auch nur ein „Danke“ für besonders gute Arbeit hatte ich seit Jahren nicht mehr gehört. Hat alles funktioniert, war‘s sowieso selbstverständlich, ging einmal nicht alles genau nach Plan gab‘s sofort Kritik. Und ziemlich sicher hätte ich das alles noch auf mich genommen, wenn ich wirklich überzeugt gewesen wäre, dass mich das Ganze irgendwo hinführt. So aber hatte ich immer öfter das Gefühl, nur meine Lebenszeit zu verschwenden.
Doch vom Gedanken auszusteigen bis zur Tat ist es ein weiter Weg. Und so habe ich vorerst einmal weitergemacht. Unzählige Male habe ich hin und herüberlegt wie ich es anstellen kann, um doch noch den Absprung zu schaffen. Aber ich wusste einfach nicht wie. Denn der Weg, den ich jetzt ging, war vielleicht nicht der beste aller Wege, aber er war mir zumindest bekannt und einigermaßen vorhersehbar. Einen neuen Weg einzuschlagen, war hingegen völlig unkalkulierbar. Einfach alles hinzuschmeißen, um mir einen beruflichen Traum zu erfüllen, von dem ich nicht im Geringsten weiß, ob er sich überhaupt verwirklichen lässt, wäre mir verrückt erschienen.
Denn so einfach wie im Film ist es im wirklichen Leben nicht. So meint Cher im kürzlich angelaufenen Streifen „Unzertrennlich“ zu einem der Helden, der unschlüssig ist, was er in Zukunft beruflich machen soll: „Überleg Dir einfach, was Du am liebsten machen möchtest und dann mach es einfach!“ Das klingt verblüffend simpel. „Doch schon zu viele große Träume sind später an der tristen Realität gescheitert“, ist mir durch den Kopf gegangen. Und: „Wer viel riskiert, kann auch viel verlieren.“ Und auch wovor die Entwicklungspsychologin Jutta Heckhausen von der University of California in Irvine in dem Focus-Artikel warnt, dass nämlich derart quergebürstete Lebensläufe nicht für alle Gehaltsempfänger nachahmenswert sind. „Sie müssen auch die Krisen verkraften können, die fast automatisch mit solchen Brüchen verbunden sind“, so Heckhausen. Wer sein Leben auf den Kopf stellt und gesicherte Bahnen verlässt, braucht deshalb auf jeden Fall Durchhaltevermögen und eine gehörige Portion Frustrationstoleranz. Darüber bin ich mir im Klaren.
Denn ich habe jetzt endlich eine Entscheidung getroffen. Vor einigen Wochen bin ich aus meinem alten Job ausgestiegen und habe eine berufliche Auszeit genommen, um endlich das zu tun, wozu mir mein anstrengender Job bis jetzt kaum Zeit gelassen hat. Nach meinem ersten Drehbuch, das vor kurzem fertig geworden ist (= na ja, es geht um eine Frau, die aus ihrem alten Leben ausgestiegen ist, aber von ihrer Vergangenheit eingeholt wird...) schreibe ich gerade an meinem zweiten.
Die Entscheidung war extrem schwierig für mich und mit viel Bauchweh verbunden. Es war ein Sprung ins kalte Wasser und ich hatte große Angst das Falsche zu tun. Weil mein Verstand würde mir noch immer sagen, dass es besser gewesen wäre in den gewohnten Bahnen zu bleiben.
Aber von Tag zu Tag wird diese Stimme der Vernunft schwächer in mir und ich bin mit jedem Tag sicherer, dass die Entscheidung richtig war. Ich merke wie eine unglaubliche Last von mir abfällt und ich fühle mich wie befreit. Die Zeit ist auf jeden Fall reif für Neues. So oder so.
Letztlich hat die Überlegung gesiegt, dass ich mir später nicht sagen möchte, ich hätte es nicht einmal versucht und ich jetzt nicht noch mehr Zeit verlieren möchte. Ich probier jetzt einfach einmal aus, wohin mich mein Traum führt. Wird‘s nichts, dann muss ich das akzeptieren. Aber was wäre eigentlich wenn...