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Ulrike Linnenbrink

Reisevorbereitungen


"Also dann bis morgen."
Hermann legte Bruno beide Hände auf die Schultern und sah ihm noch einmal tief und ernst in die Augen. "Ich werde pünktlich um zehn bei dir sein."
"Danke, mein Freund. Ich bin sehr froh, dass du dich nun doch entschlossen hast." Bruno lächelte zaghaft und strich Hermann liebevoll über den Rücken. "Ich weiß, dass dir die Entscheidung nicht leicht gefallen ist."
Ohne noch etwas zu entgegnen, wandte Hermann sich ab und verließ die Wohnung.

Bruno hob den Kräuterbeutel aus der Tasse, hielt ihn einen Moment lang zum Abtropfen über den Tee und beobachtete seine kreisenden Bewegungen. Dann wippte er ein paar Mal damit auf und ab, öffnete mit einem Fußtritt den Komposteimer neben der Spüle und warf den Beutel zu dem anderen Biomüll.
Beate würde sich später um die Entsorgung des Inhalts kümmern, so wie sie auch bei der Organisation der letzten Dinge helfen würde, die in diesem Hause zu regeln waren, bevor es in den Besitz seines Bruders Helge übergehen würde. Danach musste er entscheiden, was er damit machte und wie er es mit der Verantwortung dafür hielt. Doch bis jetzt wusste er noch nichts von seinem Glück, der Gute.
Langsam schlurfte Bruno in seinen Filzpantoffeln über das Parkett des Flures, dann durch die hohe weiße Flügeltür hinüber in den Raum, der einmal sein Wohnzimmer gewesen war.
Durch die entstandene Leere erschien dieses Zimmer ihm beinahe fremd, wie ein - wenn auch prachtvoller, großzügiger, mit hohen, stuckverzierten Decken ausgestatteter Raum, der jedoch kaum noch Spuren seines Lebens zeigte.
Einzig das Klavier stand noch am alten Fleck, und diese Tatsache nahm Bruno - je näher das Morgen rückte - mit großer Sorge zur Kenntnis. Ja, die Ungewissheit trug sogar dazu bei, dass er nicht frei von dem Zweifel darüber war, ob der Zeitpunkt seiner Reise wirklich richtig gewählt sei.
Die Teetasse zwischen beiden Händen drehte er sich langsam um die eigene Achse. Sein Blick an den Wänden entlang wurde immer wieder von den Stellen aufgehalten, die sich durch Aufhellungen vom nachgedunkelten Rest der Tapete absetzten.
Jeder Fleck ein Zeichen, eine Erinnerung, eine Geschichte. Mit Wehmut betrachtet zu Beginn der Auflösung, doch inzwischen eher mit Erleichterung, die die Oberhand gewonnen hatte gegen den Schmerz des Verlustes, der umfassend war in seiner Tragweite und nicht nur die materiellen Dinge betraf. Es war wie der Schnitt, der endgültig die Nabelschnur durchtrennt hatte, ein auch äußerliches Ablösen von den Dingen, die in seinem Leben für ihn wichtig waren. Doch es war geschehen, und es musste sein. Ja, es musste sein, und es war gut so.
Den mannshohen Spiegel mit dem breit geschnitzten und mit feinem Blattgold verkleideten Rahmen würde Hermann morgen mitnehmen. Sonst war da nichts mehr, was Bruno mit den klebrigen Fingern des Weltlichen hielt, nichts mehr, was es zu regeln galt.
Außer der Sache mit dem Klavier, für das er bisher - trotz unzähliger Annoncen - keinen neuen Besitzer gefunden hatte, für das er vermutlich auch keinen mehr finden würde, denn bis morgen um zehn blieben ihm nur noch knappe zwölf Stunden. Zwölf Stunden noch...!
Bruno stellte die Teetasse oben auf die schwarzglänzende Abdeckung des Instruments, kramte in der Hosentasche seines Trainingsanzugs nach den Streichhölzern und zündete die Kerzen in den beidseitig angebrachten Messingleuchtern an.
Die brennenden Kerzen ermöglichten es, Mutters handgeschriebene Noten auf den vergilbten Blättern zu erkennen. Auch ohne das Licht des nicht mehr vorhandenen Kronleuchters und all der Lampen und Lämpchen, die im Laufe der vergangenen Wochen den Besitzer gewechselt hatten. Nur noch zur Zierde hatte er die Noten auf das ihnen zugedachte kleine Bord gestellt, zur Erinnerung. Selbst spielte er schon lange nicht mehr.
Ohne den Blick von den Flammen zu wenden steckte er die Streichhölzer wieder zurück an ihren Platz. Für einen Moment meldete sich durch diese Bewegung trotz Hermanns Spritze wieder der Schmerz, und er betastete die Schwellung an seinem rechten Oberarm.
"Das Lymphom hat sich ausgebreitet, ist schon wieder dicker geworden, was?", hatte Hermann eben festgestellt, und der Arm fühlte sich an, als habe ein ganzer Hornissenschwarm daran seine Stacheln erprobt.
"Sie überlegen, ob sie es noch operieren sollen", hatte er weiter erzählt. "Außerdem sind die Metastasen im Kopf schon wieder größer und zahlreicher geworden. Ich habe gestern Nachmittag die neuen Aufnahmen gesehen ..."
Und dann war er - weil es keine andere Sitzgelegenheit mehr gab - hinunter auf den Boden gerutscht, hatte sich gegen die Wand gelehnt und für einen Moment das Gesicht hinter den Händen verborgen.
"Natürlich werde ich dir helfen, Bruno", hatte er dabei durch die Finger gesagt, "selbst wenn sie mir durch einen dummen Zufall draufkommen und ich meine Approbation verliere und vielleicht sogar... Ich habe oft genug erleben müssen wie es endet, und das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Das werde, nein, das muss ich dir ersparen."
Ja, er war ein Freund, der Hermann! Aber auch Beate, Kathi, Kofi ... Welch ein Glück, in dieser schweren Zeit solche Freunde zu haben!
Außerdem empfand Bruno es wie einen Segen, dass man ihm zumindest äußerlich bisher nichts ansah, dass er nicht wie Roland an Gesicht, Hals und Händen übersät war von diesen hässlichen roten Flecken, dass er bis zuletzt durch die Straßen oder gegenüber durch den Park gehen konnte, ohne angestarrt zu werden.
Der aufgequollene Arm ließ sich durch weite Kleidung verdecken, und ins Innere seines Kopfes konnte man nicht sehen.
Denn bei ihm hatte alles einen anderen Verlauf genommen, offenbar eine eigenwillige Variante dieses teuflischen Virus, der den Weg bereitet hatte für die zerstörerischen Kräfte in ihm, und der sie beide, Roland und ihn, schon vor ihrer ersten Begegnung getroffen hatte wie ein giftgetränkter Pfeil, ihnen erschienen war wie eine hässliche Mauer - errichtet, um einen Keil zwischen die Menschen zu treiben.
Roland ...!
Bruno ließ sich vor dem Klavier auf den kleinen schwarzen Hocker sacken und drehte sich so weit herum, dass er – ohne sich den Hals zu verrenken - die überdimensioniert und grellrot an die Wand gepinselten Buchstaben lesen konnte.
VINCENTE! stand dort, und hinter diesen Namen hatte er ein paar wütende Kleckse geworfen. Ausdruck seiner Tränen, seiner Verzweiflung, seines Zorns.
Ein halbes Jahr war das nun her. Ein halbes Jahr schon! Roland, der eigentlich Vincente hieß und Italiener war. Der sich Roland nannte, weil Bremen seine erste leibhaftige Begegnung mit Deutschland, ihm diesen Namen förmlich aufgedrängt hatte. Jedenfalls hatte er es damals nach dem ersten Augen-Blick an der Bar lächelnd und mit diesem bezwingenden Charme so erklärt.
"Ische wollte deutsche Name. Wohn isch in Bremen, nehm isch einefach Roland... Das ist gute deutsche Name, hab isch gedacht", hatte er fröhlich zwinkernd gesagt und damit im Sturm Brunos Herz erobert.
Innerhalb einer Woche war er nach Berlin umgezogen. "Mama mia, deine Casa ... wie sagt man in deutsch? ... nobel, si? Nobel, so schönes altes, sieht aus wie eine kleine Castello."
Beide wussten schon damals, wie es um sie stand, aber Vincentes fröhlicher Optimismus hatte ihn immer wieder aus trüben Gedanken, aus dem Nicht-Wahr-Haben-Wollen und dem Warum-Ich? gerissen und ihm gezeigt, dass es vor dem Tod noch ein Leben gab.
In der Erinnerung krampfte sich Brunos Herz zusammen. "Lass mir nischt so lang warten - drüben", hatte Vincente ihm ins Ohr geflüstert, kurz bevor seine Seele den Armen entglitt, die ihn so gern bis in alle Ewigkeit gehalten hätten...
Bruno wurde der Hals eng.
Er griff nach der Teetasse, setzte sie an die spröden Lippen und nahm vorsichtig einen Schluck. Hielt ihn einen Augenblick im Mund, spülte sich damit den unangenehm tauben Geschmack von der Zunge und presste die Flüssigkeit mit gewölbten Backen durch die Zahnzwischenräume. Hin und her.
Jetzt hatte der Tee gerade die richtige Temperatur. Nicht so heiß, dass er ihm den Gaumen verbrühte und nicht so lau, dass er fade schmeckte.
Obwohl – eigentlich schmeckte in letzter Zeit alles fade, und auch das Kauen der wenigen festen Nahrung, die er während der vergangenen Tage noch zu sich genommen hatte, fiel ihm mit wachsender Lähmung der rechten Gesichtshälfte immer schwerer. Diese ekelhaften Eindringlinge schienen sich gründlich auszutoben in dem Gehirn, das doch eigentlich seines war.
Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab, hielt die Tasse und betrachtete das helle Rechteck an der Wand - direkt neben dem Fenster zum Garten.
Dort, wo inmitten des Blumenmusters der Tapete das Gemälde gehangen hatte, auf dem die junge Frau in einem Sessel sitzend, versunken in ein Buch, abgebildet war.
Er hatte das Bild Beate geschenkt, weil die Frau in der dargestellten Stimmung - wie er fand - eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wesen seiner Freundin zu haben schien.
Auch Beate strahlte diese wohltuende Ruhe aus, diesen Einklang mit sich selbst, und sie verschlang zudem mit Begeisterung jedes Buch, das ihr zwischen die Finger geriet.
Oft war es so, dass er an diesem Vergnügen teilhatte, denn sie liebte es, ihm stundenlang und mit unbeschreiblicher Geduld vorzulesen. Von daher hatte es keiner Überlegung bedurft. Es war klar, dass das Bild nur zu ihr wirklich gehörte.
"Schau dir diese Frau doch mal genau an! Sie ist nicht nur wie du, ruhig, still, belesen, mit sich und dem Garten, der sie umgibt in großer Harmonie, sie sieht dir sogar ein wenig ähnlich, findest du nicht? Schau doch, diese Blumenkohlohren und diese Mohrrübennase!", hatte er scherzend gesagt, um der Situation ein wenig von der Bedrückung zu nehmen und Beate aufzuheitern.
Nichts wollte sie von ihm. "Ich wünsche mir, dass du lebst!", hatte sie geweint - unbeeindruckt von seinem hilflosen Versuch - und sich erst nach langem Drängen entschieden. Auch für die schweren Leuchter aus Messing, die auf der Anrichte neben der Chaiselonge gestanden hatten.
"Aber wirklich nur, weil sie mich immer, wenn ich sie anschaue und Kerzen darin anzünde, an die Zeit mit dir erinnern werden. Nur deshalb. Und auch dabei komme ich mir jetzt vor wie ein Leichenfledderer, der schon fleddert, obwohl es noch gar keine Leiche gibt. Kann ich sie nicht später mitnehmen? Wenn du ..."
Sie hatte nicht aussprechen können, was sie sagen wollte, und ihm gleich darauf die Arme um den Hals geschlungen, konnte nichts mehr tun gegen den Krampf, der sie zu schütteln begann.
Ohne etwas, das in ihrer Beziehung zu einander nicht sein konnte und auch von niemandem erwartet wurde, war Beate ihm mit den Jahren eine wirkliche Freundin, eine Vertraute geworden, die ihm nicht ihre Zuneigung entzog wie einige andere Menschen, die er ohne die Belastung des positiven HIV-Testergebnisses in gegenseitiger Täuschung für Freunde gehalten hatte.
Nein, sie war ihm treu geblieben. Er war sich sicher, dass er ihr schmerzlich fehlen würde, und dass dieses Gemälde und die Leuchter in ihren Händen nicht nur gut aufgehoben sein würden, sondern auch am rechten Platz.
Neben jenem hellen Rechteck an der Wand gab es ein zweites. Beinahe ebenso groß, nur ein wenig nach rechts verrückt. Dort hatte das "Sturmbild" gehangen, auf dem die Kronen der Bäume sich unter heftigem Sturm, umwirbelt vom gelösten Herbstlaub, zur Seite bogen.
Das Sturmbild hing nun bei der temperamentvollen Kathi. In ihrem Antiquitätenlädchen, in dem besonders Sammler erlesener antiker Silberbestecke fündig wurden, und die er daher liebevoll "Frau von Löffelchen" genannt hatte, was sie sich - kam es doch von ihm - gern gefallen ließ.
Auch Kathi war nicht sonderlich erfreut, schon zu Brunos Lebzeiten in diesen Besitz gelangt zu sein, doch sie hatte es in der ihr eigenen nüchtern realistischen Art als seinem Wunsch gemäß akzeptiert, das Gemälde ohne langes Zieren unter den Arm geklemmt und mitgenommen.
Weiter schweifte Brunos Blick durch den Raum, über den türkisfarbenen Teppichboden hinweg.
Die Eindrücke der Sessel und des Tisches hatten sich aus dem Flor noch nicht wieder aufgerichtet. Wie sollten sie auch, nach all der Zeit, die die Möbel dort an der immer gleichen Stelle verbracht hatten. So schnell sind Spuren nicht verwischt. Nein, so schnell nicht.
Kofi ..., dachte er und spülte die aufsteigende Trauer über den Abschied mit einem neuen Schluck Tee hinunter. Kofi, die treue Seele!
Nach Vincentes Tod hatte er ihm sogar einen winzigen Hauch dieses Gefühls zurückgegeben. Eine kleine Spur von Verliebtheit, die er - von Vincente allein gelassen - schon nicht mehr für möglich gehalten hatte.
Ein einseitiges Empfinden zwar, weil Kofi "anders" liebte, verheiratet war und zwei entzückende kleine, dunkelhäutige Kinder gezeugt hatte, aber da die Endlichkeit ohnehin im Raum stand, war es Bruno schon Erfüllung genug, ein solches Gefühl wenigstens im eigenen Herzen zu haben und zu spüren, dass ein wichtiger Teil seines Lebens noch nicht gestorben war.
Der schwarze Kofi, der ihm als ‚Putzmann’ seine Dienste angeboten hatte und ihm in den wenigen Monaten zu einem hilfreichen Freund geworden war. Bis gestern hatte er sich um seinen Haushalt gekümmert. Nichts war ihm zu viel geworden.
Es hatte ihm nichts ausgemacht, nicht nur die Wohnung, sondern auch Brunos Körper zu säubern - dann, wenn die verstärkt auftretenden Lähmungserscheinungen ihn daran hinderten, es selbst zu tun. An diesen Tagen, die ihm einen kleinen Vorgeschmack gaben auf das, was kommen würde, wenn er nichts unternähme, wenn er sich nicht entscheiden könnte.
Kofi hatte die Sessel mit dem Pfauenmuster und das Rattantischchen mitgenommen. Beides so erfrischend exotisch wie er selbst, und da diese Möbel, gekauft in einer Laune, die Bruno sich später nicht mehr recht erklären konnte, nicht jedermanns Geschmack trafen, war es ihm eine große Erleichterung, als er das Blitzen in Kofis Augen bemerkte, das Erstaunen und die ungläubige Freude, als er ihm diesen Vorschlag unterbreitet hatte.
Seit gestern waren auch diese Dinge nicht mehr da, und von Kofi hatte er sich mit einer für beide Männer schmerzenden Endgültigkeit verabschiedet.
Zu den übrigen Flecken auf dem Teppichboden und an den Wänden gab es keine Geschichten, die Brunos Herz in gleicher Weise berührt hätten. Menschen waren nach der Anzeige in der Tageszeitung in Scharen in sein Haus eingefallen und hatten an sich gerissen, was verfügbar war.
Sie hätten auch die Bilder, die Leuchter und den Spiegel mitgenommen, wenn er sie nicht daran gehindert hätte. Stumm und innerlich unbeteiligt, hatte er dabei zugesehen, wie die Gier diese Aasgeier um einzelne Stücke miteinander kämpfen ließ.
Müde lächelnd, ja fast amüsiert war es ihm vorgekommen, als betrachte er die Szenerie von weit, weit weg, als habe er sich schon Meilen entfernt aus diesem Teil seiner Realität, von allem, was materiell und damit für ihn unwichtig geworden war.
Noch ein Schluck Tee. Bruno schüttelte den Kopf und löste sich von diesem unangenehmen inneren Bild, erhob sich mit einiger Mühe und ging die wenigen Schritte hinüber zum Spiegel, der darauf wartete, morgen von Hermann abgeholt zu werden.
Er sah sich in die von dunklen Schatten umrahmten Augen, fuhr prüfend über seine noch immer zarte, unbefleckte Haut und den kahl gewordenen Kopf.
"Nein, nicht so wie bei Vincente", wiederholte er laut, was er kurz zuvor zu Hermann gesagt, womit er auch Beate und Kathi von der Ernst- und Sinnhaftigkeit seiner Absicht zu überzeugen versucht hatte.
"Der Weg bis hierher war schwer genug, ich muss das nicht auskosten bis zur Neige. Ich will, dass mir die gleiche Gnade widerfährt, die man keinem kranken Hund versagt. Ich werde mich nicht an Apparate anschließen lassen, nicht mehr meinen Kopf oder meinen Arm operieren, nichts aus mir herausschneiden lassen, nicht ohne eigenen Einfluss dahinvegetiert werden. Von Menschen, die meinen Schmerz und meine Verlorenheit nicht fühlen, meinen Zerfall nicht spüren wie ich selbst, die mir nichts davon abnehmen, alles nur verlängern können. Ich bin weder ein Feld für medizinische Experimentierfreudigkeit noch bin ich bereit, mich dem Helfersyndrom des Hippokrates zu beugen. ICH bin ICH! Wer außer MIR hat das Recht zu entscheiden, was MICH betrifft? Wenn nur endlich auch das Klavier ...!"
Bruno wandte sich um und spürte beim Anblick des Instruments wieder die drängende Sorge. Sollte es sich wirklich seinem Einfluss entziehen, wem es ab morgen gehören durfte? Dies war der einzig unerträgliche Gedanke für ihn in diesem Augenblick.
Er ging zurück zum Klavier, stellte erneut die Tasse oben ab und setzte sich wieder auf den Hocker, hob den Deckel von der Tastatur, holte mit seinen dürren Fingern ein paar Töne in den durch die Leere hallenden Raum und lauschte ihnen mit Wehmut.
Der Klang war noch immer warm und weich, so wie er es liebte, so wie er es immer geliebt hatte. Schon als Kind, wenn seine Mutter darauf gespielt hatte und die Melodien bis zu ihm hinüber ins Spielzimmer gedrungen waren.
"Du konntest noch so wilde beim Toben sein, Brunochen, wenn Mama sich ant Klavier setzte und spielte, wurdeste janz stille", hatte ihm Jette, seine Gouvernante später erzählt, als er die Gute nach langen Jahren, grau geworden und gebeugt, am Grab der Mutter wiedertraf, "wenn se Klavier spielte, wurdeste stille wien Fisch und hast de Öhrchen janz weit aufjesperrt, Jungchen. Da dacht ick immer, der Kleene hatn Musikus in sich drinne stecken ... Der hatn Jefühl für sowat ..."
Nein, ein Musikus war nicht geworden aus ihm, nur einer, dem die Musik viel bedeutet, weil sie ein wichtiges Stück seiner Kindheit war. Dem jedoch zu der an der Mutter bewunderten Virtuosität offenbar die Gabe, das Talent fehlte.
Er hatte es eher wie ein Handwerk erlernen müssen, und zum Hausgebrauch gelang ihm das Spiel leidlich. Doch schon früh waren ihm die eigenen Grenzen bewusst, und er hatte sie akzeptierte - wenn auch mit Bedauern.
Dies jedoch behinderte ihn nicht in seiner nach wie vor bestehenden Liebe zu dem Instrument, war das Klavier doch für ihn untrennbar mit einer wichtigen Facette des Wesens seiner Mutter verbunden, ein sichtbares, wenn auch ohne den letzten Erfolg gebliebenes Relikt des musischen Interesses, das sie ihm ins Herz gepflanzt hatte.
Bruno ließ den Deckel langsam wieder zurückgleiten, fuhr mit den Händen streichelnd darüber hinweg.
Wie schön es noch glänzte! Keine Kratzer, keine Spuren unangemessenen Umgangs mit ihm. Es hatte bisher seinen Platz nicht wechseln müssen, schien verwachsen mit der alten Grunewalder Villa, dem Familiensitz noch aus der Gründerzeit, gehörte zu ihr wie deren Wände selbst. Das Haus, das Klavier und sein Leben waren praktisch eine Einheit, die bisher nicht von einander getrennt worden waren.
Doch das würde nun anders, denn sein Bruder wollte "den ollen schwarzen Kasten" nicht, hatte keine Beziehung dazu.
Sollte er mit dem Haus machen, was er wollte. Verkaufen vielleicht, weil sein Lebensschwerpunkt sich an einen anderen Ort verlagert hatte, und der Erlös ihm helfen könnte, dort befreiter vom finanziellen Druck zu sein, aber die Sorge um den Verbleib des Instruments ließ in Bruno doch immer wieder Zweifel darum aufkeimen, ob seine Entscheidung - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, der in Bezug auf den Verbleib des Klaviers noch ungeklärt war - möglicherweise nicht doch eine falsche sein könnte.
Ihn fröstelte plötzlich.
Das Beruhigungsmittel, das Hermann ihm gespritzt hatte, schien endlich seine Wirkung zu tun. Es dauerte immer länger in letzter Zeit. Nichts schlug mehr recht an, jedenfalls nicht so wie zu Beginn, als Brunos Körper noch voller Neugierde und offen schien, bereitwillig reagierte. Allzu vertraut waren ihm die Medikamente geworden. Es war, als habe er sich mittlerweile so sehr daran gewöhnt, dass er sie kaum noch wahrnahm.
"Fragt sich, wie viel da drinnen tatsächlich noch von mir ist.", hatte er in Hermanns Beisein eben überlegt, und es war halb scherzend gedacht. "Was meinst du? Wie viel von dem Blut in mir ist tatsächlich noch Blut?" Hermann hatte darauf nicht antworten können und ihn nur traurig angesehen. Nein, zum Mitlachen war ihm nicht zumute. Absolut nicht.
Schwer waren Brunos Beine nun, als sie ihn hinüber in den Schlafraum trugen. Er drehte seinen Rücken gegen das Bett, ließ sich hinuntersacken, zur Seite kippen, zog sich frierend die Daunendecke um den Körper und schloss die Augen.
Nein, er entkleidete sich nicht. Warum auch? Wozu? Zu mühsam, zu kalt, zu müde ...

Als das Schrillen des Telefons ihn aus dem Schlaf riss, war es zwei Uhr in der Nacht.
"Wissen Sie, wie spät es ist?!", grollte Bruno schläfrig in den Hörer und ließ ihn zurück auf den Apparat fallen.
Er brauchte nur einen kurzen Moment, bis ihm bewusst war, was er getan hatte, denn gleich nachdem er die Hand zurück auf das Kopfkissen und unter seine Wange geschoben hatte, fiel ihm die Anzeige wieder ein, die auch gestern noch in der Zeitung erschienen war. Das Klavier! schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht war das ja jemand, der wegen des Klaviers ...!
Vorbei war es mit seiner Schläfrigkeit. Bruno setzte sich auf und hätte sich ohrfeigen können!
Doch im nächsten Moment läutete das Telefon erneut.
"Legen Sie bitte nicht wieder auf!", bat die männliche Stimme am anderen Ende. Eindringlich, aufgeregt, sprudelnd.
"Entschuldigen Sie, ich komme gerade aus New York zurück und bin noch am Flughafen Tempelhof, weil ich darauf warte, dass meine Freundin mich abholt. Die Zeitverschiebung, wissen Sie? Auf meiner Uhr ist es gerade acht. Hab nicht dran gedacht, dass wir ja hier in Deutschland tiefste Nacht haben. Lese hier nur zufällig eben diese Anzeige in der Zeitung, und da ich schon lange händeringend nach genau so einem Klavier suche, wie es in der Anzeige beschrieben ist ..."
"Ich muss mich auch entschuldigen", sagte Bruno, "für meine Unfreundlichkeit."
"Schon okay. Eigentlich verständlich. Ich würde mich auch nicht darum reißen, dass mich jemand nachts um zwei aus dem Schlaf klingelt. Ist es noch zu haben, das Klavier?"
"Ja, ist es." Brunos Herz begann heftig zu klopfen. "Aber Sie müssten sofort kommen, wenn sie es sich anschauen wollen, denn morgen früh um zehn gehe ich auf eine sehr, sehr lange Reise, so dass es spätestens bis dahin aus dem Haus sein muss. Sie müssten also in einem Wahnsinnstempo den Transport organisieren und spätestens um zehn, nein, besser um neun, alles erledigt haben. Meinen Sie, das könnten Sie schaffen?"
"Wohin muss ich kommen? Sagen Sie mir ihre Adresse", forderte der Mann hastig, statt darauf zu antworten, "ich werde mich sofort zu Ihnen fahren lassen. So bald meine Freundin endlich hier auftaucht."
Bruno nannte ihm seine Anschrift. Dann legten beide auf.

Nach dem Telefonat hatte er sich nur noch kurz zurück ins Kissen legen wollen, um ein wenig zu dösen. Dabei war er jedoch wieder fest eingeschlafen.
Erneut riss ihn eine Klingel aus dem Schlaf. Diesmal die an der Haustür. Er sah auf seine Armbanduhr. Jetzt war es drei. Da er sich nicht entkleidet hatte, konnte er aufstehen und gleich – so wie er war – zur Tür gehen. Seltsam, dachte er, als hätte ich es geahnt ...
Groß, höchstens Mitte zwanzig, schlaksig, mit kinnlangen, blondgelockten Engelshaaren und ein wenig blass von der Strapaze des langen Fluges stand er vor ihm, reichte Bruno seine schmale Hand und stellte sich mit einer angedeuteten Verbeugung als "Heiner Wiesinger" vor.
Pianistenhände, dachte Bruno erfreut und wartete einen Moment auf die junge Frau, von der am Telefon die Rede war. Sie schien jedoch im Wagen zurückgeblieben zu sein. So erwiderte er den sanften Händedruck, sagte: "Bruno, einfach Bruno" und trat einen Schritt zur Seite, um ihn hereinzulassen.
"Wo ist es?", fragte der junge Mann und rieb, während er Bruno durch den Flur folgte, erwartungsvoll die Handflächen an einander. "Sie glauben ja nicht, wie aufgeregt ich bin! Mann, ich bin schon seit einer Ewigkeit auf der Suche!"
Bruno lächelte nur und wies - neben der Flügeltür stehen geblieben - stumm, mit ausgestrecktem Arm auf das Objekt der offensichtlichen Begierde. Auch Heiner sagte nichts mehr, durchschritt rasch den Raum, setzte sich auf den Klavierhocker und hob langsam und andächtig den Deckel von der Tastatur.
"Die brauchen Sie sicher nicht, spielen Sie, was Ihnen einfällt, ich bin dann nebenan", sagte Bruno leise und beeilte sich, die Notenblätter wegzunehmen, rollte sie zusammen, brachte sie ins Schlafzimmer, zog die Schublade seines Nachtschrankes auf und legte sie hinein.
Bis zum Schluss hatte er sie zurückgehalten, konnte sich nicht trennen davon. Sollte sein Bruder Helge sie übernehmen, wenn er später auch diese beiden letzten Möbelstücke abholen würde. Vielleicht für seine Tochter Nele, die vom musischen Gen der Großmutter mehr geerbt zu haben schien, als ihre beiden Söhne.
Wieder ergriffen von der vertrauten Müdigkeit wollte er sich zurücksinken lassen auf sein Bett, als der junge Mann zu spielen begann. Zaghaft zuerst, dann immer flüssiger und selbstbewusster.
Keine Frage, er spielte meisterlich. Doch das war es nicht, was Bruno bis ins Mark erschütterte, ihn in der Bewegung innehalten ließ und ihn daran hinderte, sich zu setzen. Nein, es war nicht die Perfektion, mit der die Finger dieses Mannes über die Tasten glitten, es war das kleine Stück, das Bruno kannte seit er denken konnte. Das er quasi mit der Muttermilch, vermutlich sogar schon in der wohligen Geborgenheit des mütterlichen Bauches in sich aufgesogen hatte, das ihn - wie Jette sagte - zum Fisch gemacht hatte, stumm und andächtig lauschend.
Wie eine Umarmung umfing es seine Seele, wie eine warme Decke hüllte es ihn ein und fegte das Frösteln aus den Gliedern, wischte alle Müdigkeit von ihm ab, trieb ihm die Tränen in die Augen.
Das ist es! Das hat sie gespielt, wenn sie mich beruhigen wollte als ich ein Kind war, wenn sie mich umschmeicheln wollte, wenn ich schlecht gelaunt war, zum Zeichen ihrer Freude, wenn ich nach einer Reise zurückkehrte zu ihr! Das Stück, dem es immer wieder gelang, aus dem störrischen Bock in mir ein sanftes Lämmchen zu zaubern, die Falten meiner Seele zu glätten.
Jetzt erst setzte Bruno sich. Er war tief erschüttert. Tränen rannen an seinen Wangen herab, ohne dass er sich dagegen hätte wehren können, und gleichzeitig war mit einem Schlag der Glaube - ja, die Gewissheit da, dass diese Musik, dass die gesamte, äußerst ungewöhnliche Situation eine Botschaft für ihn war.
Eine frohe Botschaft, ein Wink, ein Ja! Ja, tu es! Sie ist richtig, diese Entscheidung. Wir warten auf dich! Komm nur her zu uns und sorge dich nicht!
Er war so versunken in dieses Gefühl, in seine Gedanken, dass er nicht bemerkte, wie die Musik aufgehört hatte. Erst die Stimme des jungen Mannes holte ihn zurück in den realen Raum.
"Es hat einen wundervollen Klang", sagte Heiner - an den Türrahmen gelehnt, "besonders in dieser Akkustik. Dieser hohe, leere Raum, fast wie ein Konzertsaal. Ich bin begeistert! Was haben Sie gedacht, soll es kosten?"
Er stutzte und kam einen Schritt auf Bruno zu. "Ist etwas mit Ihnen? Sie haben ja geweint!"
Bruno wischte sich über die feuchten Wangen, wühlte nach dem Taschentuch unter seinem Kopfkissen, schnäuzte sich und sah dann zu ihm auf.
"Nichts", sagte er leise, "es ist nichts. Sie haben sehr ergreifend gespielt, und dafür danke ich Ihnen. Ich habe mich gerade entschlossen, Ihnen das Klavier zu schenken."
Entrüstung auf dem Gesicht des jungen Mannes. "Das geht nicht, es ist doch mindestens ..."
Bruno schnitt ihm das Wort ab und bekräftigte mit einer energischen Handbewegung, dass das Thema für ihn entschieden und beendet war. "Ich sagte, ich schenke es Ihnen, und darüber diskutiere ich nicht. Können Sie bis um neun den Transport organisiert haben? Das ist wichtig, Sie wissen ..."
"Sie treten eine lange Reise an, ja", ergänzte Heiner, "Sie sagten es schon am Telefon. Tja ..." Er biss sich auf die Unterlippe. "Ich werde alles versuchen und hoffe, dass die Leute, die mir beim Tragen helfen könnten, so spontan Zeit haben. Die Eltern meiner Freundin besitzen einen Pferdeanhänger, das Fahrzeug wäre also schon mal kein Problem. Ich denke, es wird - nein, es muss klappen!"

Hermann kam pünktlich und wunderte sich über das Leuchten in Brunos Augen, mit dem er ihn schon an der Tür empfing. Er hätte nicht erwartet, ihn an diesem Morgen derart heiter, ja in freudiger Erwartung anzutreffen.
Selbst eher bedrückter Stimmung trat er ein, stellte gleich neben der Eingangstür seinen kleinen braunen Lederkoffer ab und umarmte Bruno stumm, hielt ihn eine Weile und kämpfte mit dem Gefühl der Enge in der eigenen Brust.
"Sieh nur", löste Bruno sich schließlich, weil er den Schmerz des anderen spürte, sich nicht einfangen lassen wollte davon, "ich habe es doch noch geschafft!" Und dabei lief er ihm wie unbeschwert durch den Flur ein paar Schritte voraus. "Na? Was sagst du?"
"Es ist weg!", staunte Hermann und starrte erst auf den leer gewordenen Platz vor der Wand, dann hinüber zu Bruno, der die erwartete Reaktion auszukosten schien und Hermanns Verblüffung mit einem fast triumphierenden Lächeln zur Kenntnis nahm.
"Wie hast du das denn angestellt?"
"Ich glaube, die andere Seite hat mir heute Nacht ein Zeichen geschickt, und ich habe diesen Wink als einen Fingerzeig des Schicksals verstanden, so einfach ist das. Ein Engel, der auf die Sekunde genau passend aus New York kam, hat das Klavier heute Morgen abholen lassen. Beinahe wärst du den Trägern im Treppenhaus noch in die Arme gelaufen. Sie sind erst seit wenigen Minuten fort."
"Ein Engel?" Hermann verstand gar nichts. "Du sprichst in Rätseln, Bruno."
"Wenn da noch Zweifel waren, Hermann, und sie waren manchmal da, das weißt du, denn wir haben oft genug darüber geredet, dann sind sie nun fort, so viel ist mir sicher. Komm, lass uns bitte, ehe du deine Tasche aus dem Flur holst, noch einen Tee zusammen trinken. Ich habe ihn schon aufgebrüht. Dabei werde ich es dir erzählen ..."



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