Home
Frauen Kinder Kueche Mail Impressum
Maenner Kultur Medi-Eck Anzeigen Links

Gudrun Schilken

Das Vergnügen traurig zu sein


Melancholie ist das Vergnügen traurig zu sein. Das hat einmal Victor Hugo gesagt.
Und dieses Vergnügen gönne ich mir im Herbst gern.
Der Himmel malt dramatische Wolkenbilder, verregnete Tage im kuscheligen Zuhause mit Kerzenlicht. Dazu Norah Jones, die aus meinem Herzen von der Liebe singt. Ich sauge jedes Wort, jeden Ton auf und gebe mich meinen Gedanken an nicht gelebte Lieben hin.
Ich bin gern allein.
Der Sturm rüttelt an den Fenstern, begehrt ein Einlass und lädt mich ein, mit meinen Gedanken Drachen steigen zu lassen. Ich bin ganz nah bei mir, ich kann mich fühlen. Keine Sonne, die mich zwingt fröhlich zu sein und die Tage draußen zu verbringen. Innig traurig sein, meine Seele ausschütten und mein Leben vor mir ausbreiten, um nur die vertanen Chancen zu betrauern. Ich genieße es. Ohne Rechenschaft vor mich hinweinen, ohne Reue unglücklich sein. Geht es mir denn nicht gut? Muss ich nicht zufrieden sein? Ich bin gesund, ich habe ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und zu trinken. Ist das nicht undankbar, gegenüber all jenen, denen es schlecht, wirklich schlecht geht? Nein. Das Recht, es mir in meinem Seelendunkel gemütlich zu machen habe ich. Ich nehme es mir. Mit beiden Händen lange ich mit Vergnügen zu. Wolkenverhangen alle meine Gedanken und mir geht es gut dabei.
Ich denke an meinen Tod. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich die zu Boden taumelnden Blätter. Sie sind noch voller Saft, aber die Kraft schwindet mit jedem Augenblick, da sie am Boden liegen. Sie vermodern und kehren zurück zur Erde, der sie entsprangen. Manch ein Blatt ist noch prächtig grün und frisch. Der Wind reißt es ungefragt zu Boden, trennt es vom Leben. Es tanzt vergebens ein schönes letztes Mal. Es windet sich, bevor es endgültig zu Boden taumelt und dort vergeht. Wie einfach ist die Lebensphilosophie beim Betrachten der Natur auszumachen.
Eine letzte Rose blüht trotzig und glotzt in mein Zimmer.
Mein Blick fällt auf den Kalender. Welches ist wohl mein Todestag? Ein Tag im Herbst, im Frühling, Sommer oder Winter? Ein Montag oder Dienstag? Gar ein sterbefreundlicher Sonntag? Am Anfang oder Ende des Monats? Oder mittendrin aus dem Leben? Wann gehe ich wohin?
Mich fröstelt. Ich schlinge meine Lieblingskuscheldecke um meine Schultern. Die Musik trägt mich, tröstet mich. Norah Jones soll mich in den Tod singen. Bald?
Melancholie ist das Vergnügen traurig zu sein.