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Wolfgang Sréter

Let´s go dancing

Der Wecker klingelt. Es ist noch dunkel und trotzdem schon spät. Harry schlüpft in seine Hose, das rote Hemd und die Turnschuhe. Seine Freundin kocht Kaffee auf dem Gaskocher, während er im Bad die Zähne putzt. Sie macht ihm ein Käsebrot, legt Äpfel daneben und nimmt zwei Flaschen Wasser aus dem Kühlschrank. Er versucht nicht, sie noch einmal zu überreden. Sie fürchtet die Hitze auf dem Berg und, selbst wenn er den Rucksack die ganze Strecke tragen würde, sie würde auf halbem Weg zu jammern beginnen über die Steigung, die ihr den Atem nimmt. Als er losgeht, wird es hell. Der Hund, der sich ihnen am ersten Ferientag angeschlossen hat, trottet neben ihm her, auf drei Beinen. Harry spricht mit ihm über sein Hundeleben und die Zecken, festgebissen an den Ohren. Bei der ersten Steigung bleibt der Hund zurück. Harry sieht ihn von weit oben noch einmal. Sein gelbes Fell leuchtet in der Landschaft, genauso wie die Boote draußen auf dem Meer, die Richtung Hafen tuckern. Wahrscheinlich hat es früher einen Eselspfad den Hang hinauf gegeben, nun geht er auf einer Schotterstraße. Einmal kommt ihm ein verschlafener Motorradfahrer entgegen, mit klappernden Schutzblechen bremst er die Kurven hinunter.

Nach einer Stunde ist er am Kloster, das er die Tage zuvor vom Hotel aus sehen konnte. Eine Nonne stellt ihm einen Stuhl neben die Pforte und bietet Kaffee an. Er wartet geduldig, bis der braune Satz auf den Grund der Tasse gesunken ist, dann trinkt er vorsichtig. Die Nonne fragt ihn ”Kerkis?” und er antwortet ”Vigla!”, denn er möchte nicht nur zur Wallfahrtskirche, sondern auf den Gipfel des Berges. Die Frau wiegt ihren Kopf unter schwarzen Tüchern und begleitet ihn an der Rückseite des Klosters bis zu einem Zaun. Sie gibt ihm zum Abschied einen Rosmarinzweig, den er in der nächsten Stunde zwischen den Fingern verreiben wird. Oberhalb der Baumgrenze sieht er zum ersten Mal die Inseln Fourni und Ikaria, wie durch ein Fernglas. Der Sonnenschirm am Strand hat ihn die Tage zuvor geschützt, nun könnte er eine Mütze brauchen. Er wird auf dem Rückweg vorsichtig absteigen, denn der Weg zieht sich über loses Geröll und Felder mit Dornenbüschen.

Eine Ziegenherde bimmelt eine Zeitlang vor und hinter ihm. Er ist nicht mehr sicher, ob er auf dem richtigen Weg ist, aber als er um eine Biegung kommt, glänzen weißgekalkte Mauern in den Felsen. Er sucht sich einen schattigen Platz, zieht seine Schuhe aus und zupft sorgfältig die Dornen aus dem Nylonfutter. Er ißt einen Apfel und freut sich über das Wasser. Wäre seine Freundin – die er Bibi nennt, obwohl sie Elisabeth heißt - mitgekommen, er hätte vielleicht eine längere Rast gemacht, die Kühle der Kirche genossen, den Ausblick bis nach Patmos hinüber, wo sie in den nächsten Tagen die Höhle des Heiligen Johannes besuchen werden. Vielleicht hätte er sich zusammen mit Bibi auf die heißen Steine unterhalb der Kirche gelegt und der Tage wäre über ihnen zusammengeschmolzen. Er hat auf dem Weg hier herauf nach und nach alles hinter sich gelassen, das regnerische Wien, die Arbeit in der Kanzlei seines Vaters, die Suche nach einer Wohnung. Er beobachtet die Grashüpfer. Es muß sich um eine Kannibalensorte handeln, denn oft sitzen drei oder vier auf einem Kadaver und saugen ihn aus.

Von der Kirche aus kann er den Gipfel nicht sehen. Er muß einen grasbewachsenen Bergrücken umgehen. An der Quelle schüttet er den Inhalt seiner Flaschen auf die Steine und füllt sie neu. Es gibt Vermutungen, daß diese Quelle unter der Meerenge von Samos mit dem türkischen Festland verbunden ist. Sie hat also vor Millionen von Jahren zum kleinasiatischen Sockel gehört hat. Die Türken leiten daraus Ansprüche ab, die Griechen wollen davon nichts wissen. Die Insel ist voll mit Wehrpflichtigen, die im Ernstfall griechische Erde auf diesem vorgeschobenen Posten verteidigen müssen. Man plant hier seine Ausflüge unter Aufsicht der Armee und schwimmt unter Aufsicht der Marine. Von der Quelle ist es noch eine Stunde bis zum Gipfel.

Er hört die Engländer, bevor er sie sehen kann. Obwohl sie singen, stören sie seine Ruhe. Den Jungen sieht er zuerst. Er springt den Weg hinab, als würden Hitze und Dornen nicht stechen. Harry legt sich einen Satz zurecht und fragt, wie weit es noch bis zum Gipfel ist. Der Junge antwortet: ”Zwanzig Minuten”, und setzt hinzu, ”mit mir zusammen nur zehn!” Harry bedankt sich. Einen Moment ist er versucht, mit der Familie umzukehren. Der Schweiß brennt in den Augen, der Rucksack klebt am Hemd. Die Engländer machen ihn auf den Mohn aufmerksam, der zwischen den Steinen wächst, zwei drei Zentimeter hoch mit hellroten Blüten. Vielleicht, denkt er im Weitersteigen, ist der Vater Biologielehrer und peinigt seine Familie in den Ferien mit botanischen Bestimmungen. Er lacht, ganz für sich alleine, und plötzlich fühlt er sich leicht, inmitten eines roten Meeres.

Er ist tatsächlich nach zwanzig Minuten auf dem Gipfel. Er stellt sich neben eine kleine gemauerte Säule, trinkt und dreht sich um sich selbst. Er erinnert sich der Berge in den österreichischen Voralpen, die sein Vater mit ihm bestiegen hat, den Schneeberg, die Rax, das Steinerne Meer. Sie waren genauso hoch, aber hier kann man vom Strand aus losgehen und hat nun den Eindruck, im Hochgebirge zu sein. Die Griechen fürchten diesen Berg. Er gilt als gefährlich, weil er plötzlich im Nebel verschwindet. Deswegen gibt es neben der Wallfahrtskirche einen kleinen Raum mit einem Kamin und Brennholz, nicht nur für verirrte Bergsteiger, sondern auch für Suchmannschaften, die mehrmals im Jahr in diesem Massiv unterwegs sind. Harry hätte keinen besseren Tag wählen können, weder über dem Meer noch über dem türkischen Festland ist eine Wolke zu sehen. Als er die Wasserflasche zurück in den Rucksack packt, flimmert die Luft auf dem Gipfelplateau. Er pflückt zwei Mohnblumen und legt sie vorsichtig in ein Papiertaschentuch, denn er möchte von seinem Ausflug etwas mitbringen.

Als er den Gipfel verläßt, ist es High Noon. Er ist nun seit sechs Stunden unterwegs, und nach ihm ist niemand mehr auf dem Weg nach oben. Er steigt tatsächlich vorsichtig ab, er möchte nicht hinkend zurückkommen. Die Engländer sehen sein Hemd gegen den tiefblauen Himmel gezeichnet, dann taucht ihr Weg in den Wald hinunter zum Kloster. Sie werden ihn mit Hilfe eines Paßfotos wiedererkennen. Er braucht zurück bis zur Quelle länger als vermutet. Die Hitze drückt. Er zieht das Hemd aus und versucht daraus einen Turban zu machen. Er trinkt in Abständen und schüttet sich ein wenig Wasser über den Kopf. Das nasse Hemd kühlt. Er denkt an seine Freundin. Vielleicht ist die Wohnungssuche nur deshalb so schwierig, weil sie immer etwas anderes will als er. Er möchte hinaus aus der Stadt, in der im Sommer die Hitze wie ein durchsichtiger Vorhang steht. Sie würde am liebsten mitten drin wohnen, in dem Gewühl aus kurzhosigen Touristen, die ihre Kameras wie Großwildjäger vor sich hertragen, aus Rechtsanwälten im grauen Zweireiher und Fahrradkurieren, eingeschnürt in knallbunte Wursthäute.

Unterhalb der Kirche überquert er ein Geröllfeld. Er übersieht eine Markierung, an der er rechts abbiegen sollte, geht noch eine Zeitlang weiter, merkt dann, daß er sich verlaufen hat. Es gibt keinen Grund, nicht bis zur letzten Markierung zurückzugehen, der Abschnitt ist weder steil, noch unübersichtlich. Innerhalb einer Viertelstunde würde er den Glockenturm wieder sehen, aber so wie er nicht gerne gegenüber Bibi nachgibt, kehrt er auch nicht gerne um. Er überlegt kurz und entschließt sich, die Diretissima zu wählen, wie es in der Sprache der Bergsteiger heißt. Er orientiert sich an der Uferstraße, auf der Urlauber in offenen Jeeps zum Strand fahren. Sein Vater hätte ein solches Vorgehen mißbilligt, aber endlich muß Harry nicht mehr hinter dem Alten herkeuchen.

Er geht durch wilden Salbei, bleibt eine Weile stehen, schließt die Augen und wird fast schwindlig von dem Geruch. Als er die Felswand erreicht, kann er etwa drei bis vierhundert Meter weiter unten den Weg erkennen, der ihn zum Hotel bringen würde. Er klettert ein Stück nach rechts, durch Dornen und Gestrüpp. Wenn er weit genug in diesem Gelände vorwärts kommt, muß er das Kloster sehen können. Direkt über sich vermutet er die Kirche. Zurück kann er noch immer, wenn er hier hängen bleibt. Auf seiner Uhr ist es kurz nach vier. Als er das nächste Mal auf die Uhr schaut, weiß er nicht mehr, wie spät es vorher war. Seine Knie bluten, die Turnschuhe geben in dem Geröll zu wenig Halt. In etwa einer Stunde muß er am Kloster sein. Von da aus ist es noch eine weitere Stunde - oder sind es zwei? - bis er unter der Dusche im Garten steht. Er verliert in den mannshohen Sträuchern die Orientierung und macht eine kurze Pause. Beide Füße sind unterhalb der Knöchel offen, an der rechten Ferse schmerzt eine Blutblase.

Später denkt er, es war ein Fehler war, an dieser Stelle eine Ewigkeit sitzenzubleiben und auf das Meer hinauszustarren. Harry erholt sich ein wenig und beschließt, wie ein Ballonfahrer, Ballast abzuwerfen. Da er keinen Hunger hat, läßt er sein Essen zurück, trinkt aus der großen Flasche, kühlt noch einmal seinen Kopf, füllt den Rest Wasser in die kleine um. Bis zum Kloster reicht ein knapper halber Liter Flüssigkeit. Manchmal geht er nun im Schatten, denn die Sonne steht schon hinter dem Berg. Er zieht sein Hemd wieder an, der Sonnenbrand schmerzt auf Schultern und Oberarmen.

Ab jetzt will er nach der Uhr gehen, er möchte die Nacht nicht im Freien verbringen. Er kommt an einer Höhle vorbei, die wahrscheinlich Ziegen an windigen Tagen Schutz bietet, und muß ein Stück zurücksteigen. Er ist wieder an der Felswand angekommen. Seine Beine sind zerkratzt, die Fliegen lassen sich nicht mehr von den offenen Stellen verscheuchen. Er steigt um eine Felsnase herum, macht sich auf den Weg nach unten und ist überzeugt, er wird unterhalb des Klosters auf die Straße treffen. Da steht er plötzlich wieder vor dem großen Busch mit den gelben Blüten. Über seine Brote und die Äpfel sind die Ameisen hergefallen. Er wischt die kleinen schwarzen Punkte ab und schlingt alles in sich hinein. Dazu trinkt er, um die Nahrung durch die Speiseröhre zu bringen. Seine Lippen brennen, denn die Mirmingi, wie die Griechen die Ameisen nennen, verteidigen ihre Beute. Es ist zu spät, die Wallfahrtskirche noch zu erreichen, er wird die Höhle suchen. Sie war schräg oberhalb des Rastplatzes. Harry erkennt einen großen Stein wieder und ist erleichtert. Seine Orientierung funktioniert, obwohl er unter Schwindel leidet. Trotzdem müßte er längst an der Höhle angekommen sein.

Tatsächlich findet er sie gegen zehn Uhr abends. Er hat das Essen erbrochen, einen galligen Geschmack im Mund, und die Flasche ist leer. An der hinteren Wand der Höhle läuft Wasser entlang. Er legt zuerst die Hände drauf, dann die Unterarme und schließlich sein Gesicht. Er läßt das Wasser auf seine Zunge tropfen, gleichzeitig hält er den Flaschenrand an den Felsen. Seine Hände zittern so, daß er kein Wasser in die Flasche bringt. Er stellt sie auf den Boden und lehnt sie mit der Öffnung an den Stein. Mit ein paar Felsbrocken versucht er sie zu stützen, denn die leichte Plastik rutscht immer wieder aus ihrer Lage. Am Ende sieht das Bauwerk aus wie die Steinmännchen, an denen er sich auf dem Weg zum Gipfel orientiert hat.

Er setzt sich vor die Höhle. Über ihm steht der große Bär am Himmel, unter sich sieht er die Lichter der Autos auf der Uferstraße. Gestern saß er dort auf einer Mauer und genoß die Sonne, die eine Perlmuttschicht unter die Wasseroberfläche gezaubert hatte. Immer wieder erschrickt er, wenn ein Motorrad am Meer entlangdonnert. Er zieht die Schuhe aus, reißt ein paar Flechten aus dem Höhlenboden und legt sie auf die wunden Füße. Die Schmerzen lassen nach, dafür laufen Tränen über sein Gesicht. Als er aufwacht, ist er steif vor Kälte. Er schlägt die Arme um den Körper, kann aber mit den offenen Fußsohlen nicht hüpfen. Wahrscheinlich ist Elisabeth längst bei der Polizei gewesen. Trotzdem, in der Nacht wird niemand die Suche nach ihm aufnehmen.

Als er einen Hund hört, denkt er eine Zeitlang, das Gebell würde näherkommen. Er versucht gleichzeitig zu rufen und in die Nacht hinauszuhören. Vielleicht ist es sein dreibeiniger Begleiter, der die Spur aufgenommen hat. Wäre er um die Ecke gebogen, er hätte ihn in die Arme geschlossen, um seine Wärme aufzunehmen. Er hätte ihm erzählt, von der Anwaltskanzlei seines Vaters, in die er vor einem Jahr eintreten mußte, von seinem Studium, in dem er gelernt hat, logisch zu denken. ”Heute habe ich alles falsch gemacht”, sagt er zu sich selbst, ”alles falsch, bumsti! Ich bin in kurzen Hosen, einem lächerlichen Hemd, ohne Mütze und Strümpfe losgegangen, habe beim Abstieg an der Quelle die Flaschen nicht gefüllt, bin nicht umgekehrt, als ich mich verlaufen habe, bin im Kreis gewandert, ohne darüber nachzudenken, habe mich in den Schatten gesetzt, ohne einen Schlachtplan zu entwerfen. Ich werde wie der Heilige Johannes von Patmos auf hartem Lager Kraft sammeln und, wenn es hell wird, die Kirche suchen. Ich werde sogar eine dieser dünnen Bienenwachskerzen anzünden und ein Gebet sprechen, obwohl mir im Moment keines einfällt. Ja, ja, ja! Aber es hilft nichts, alles aufzuzählen, was ich falsch gemacht habe, da gibt’s kaane Würsteln.”

Am Morgen sticht die Sonne in sein Gesicht, Fliegen sitzen auf den geschwollenen Füßen und nässenden Wunden, die Augen sind verklebt. Er kriecht in die Höhle zurück. Seine Flasche ist zu einem Drittel gefüllt. Er trinkt gierig. Nach drei Schlucken ist das Wasser zu Ende. Er bereut seine Gier. Die ganze Nacht über hat sich nur wenig Wasser in der Flasche gesammelt. Nun ist er gefangen, eine kurze Strecke vom Kloster entfernt. Er hört ein Brummen, aber er bleibt mit dem Rücken an der feuchten Wand sitzen. Ab und zu rutscht er zur Seite. Seine Uhr zeigt die falsche Zeit an: zwei Uhr Nachmittag. Es kann aber höchstens zehn sein, denn er hat so wenig geschlafen, daß er mehr zerschlagen als erfrischt ist. Sein Darm zieht sich krampfhaft zusammen. Er kriecht nicht weit genug und der Gestank seines flüssigen Kots peinigt ihn die folgenden Stunden. Einmal hört er das Geläut der Ziegen. Er wünscht sie sehnsüchtig herbei. Er könnte eine der Ziegen melken. Er ist plötzlich überzeugt, die Herde würden ihn auf den richtigen Pfad zurückbringen und klatscht wie ein Kind in die Hände.

Wieder hört er starkes Brummen. Es ist lauter als der scharfe Ton in seinen Ohren. Da erscheint zum ersten Mal die neunköpfige Hydra, aber er kann sie nicht bekämpfen. Er ist nicht so stark wie Herakles, der ihr die Köpfe abgeschlagen und die Hälse ausgebrannt hat, und so saugt sie mit ihren Rundmäulern das letzte Wasser aus ihm heraus. Er bittet sie auf Knien von ihm abzulassen. Je mehr er winselt, desto mehr wickelt sie ihn ein. Über der Hydra schwebt seine Freundin. Sie ist nackt unter dem kurzen Sommerkleid. Ihre Schenkel sind gerötet von der Sonne und sehen aus wie offenes Fleisch. Sie hüpft in der Luft von einem Bein aufs andere. Als er sie küssen will, stößt er die Flasche um. Er beschließt, wenn die Schlange noch einmal über ihn herfallen sollte, schlitzt er sich mit dem Messer die Pulsadern auf. Das Messer ist im Rucksack. Der Rucksack liegt neben dem Eingang. Der Eingang ist unerreichbar. Oder umgekehrt.

Der Junge ist neugierig. Vom Strand aus kann er die Hubschrauber kreisen sehen. Er geht ins Dorf und erfährt, jemand ist vom Berg nicht zurückgekommen. Er weiß, wer das ist. Der Leiter des Suchtrupps wird über Funk gerufen. Er zeigt dem Jungen einen österreichischen Reisepaß. Der Junge kann genau angeben, wann das rote Hemd des Mannes beim Abstieg zuletzt aufblitzte, denn er hat zum Geburtstag eine Uhr geschenkt bekommen. Er hat an diesem Tag die Zeiten aus dem Wanderführer einprogrammiert, und das ewige Piepsen machte alle verrückt. Der Offizier fragt ein paar Mal nach, denn oft genug haben Wanderer beim Abstieg die Nordroute eingeschlagen und sind zwei Tage später mit dem Bus wieder im Dorf aufgetaucht. Seine Männer sind unwillig. Mehrmals im Jahr muß er sie über glühende Geröllfelder jagen.

Der Junge fertigt eine Zeichnung an, wie er sie aus dem Herrn der Ringe kennt. Er fragt, was nun passiert. Er würde gerne einmal in einem Hubschrauber fliegen. Der Vermißte muß in der Nähe der Kirche sein. Wenn er kein Wasser hat, sagt der Offizier in gebrochenem Englisch, hat er noch einen Tag Zeit. Höchstens. Und dann? Der Offizier legt dem Jungen den Arm um die Schulter, als wäre er sein eigener Sohn. In der Nacht kann niemand suchen, aber seine Männer werden auf dem Berg bleiben, im Biwakraum der Kirche. Der Wetterbericht meldet keinen Nebel, das erleichtert die Suche, verstärkt allerdings den Durst und die Verwirrtheit. Am Abend sitzt der Junge vor einer Geburtstagstorte, bestückt mit Kerzen, die man nicht ausblasen kann. Mit offenen Augen träumt er vom Todeskampf eines Helden, der schon nicht mehr bei Sinnen ist, aber tapfer und verzweifelt gegen eine Bestie kämpft, die nach frischem Blut giert.

Wie Harry die Nacht verbracht hat, weiß er nicht. Die Hydra ist mehrmals zurückgekommen und hat seinen Körper vom Geist getrennt. Ab und zu befühlt er einen Fleischklumpen, der mitten aus dem Gesicht ragt. Er könnte ihn mit dem Messer abschneiden, ohne daß es weh tut. Das Gehirn hat den Empfang von Signalen eingestellt. So kommt er in seine Schuhe. Er braucht lange bis er die Schuhbänder zugebunden hat. Er nimmt den Rucksack über die linke Schulter, die rechte ist am Ohr angewachsen. Er bringt den Gurt nicht an die richtige Stelle. Bevor er aufbricht, um mit Bibi in die gemeinsame Wohnung zu ziehen, setzt er eine Mütze auf. Als der Schirm zu sehr die Sicht nimmt dreht er sie um. Er versucht seinem Hund zu pfeifen, kann aber die Lippen nicht spitzen. Deshalb ruft er ihm zu: ”Let´s go dancing!” Er denkt, ich habe eine Glocke um den Hals. Ich werde versuchen sie festzuhalten, das Gebimmel macht mich verrückt. Er redet einem Mandanten ins Gewissen, nach dem Urinieren die Klospülung nicht unnötig lange laufen zu lassen, sieht sich noch einmal um, ob er verfolgt wird.

Die neunköpfige Schlange ist wieder da. Sie verwandelt sich in einen schwarzen metallenen Vogel, der erst über ihm schwebt und sich dann langsam auf ihn herabläßt. Harry denkt, ich renne den Hang hinauf, dabei kriecht er mühsam auf allen Vieren, Richtung Wallfahrtskirche, die nach dem Herrn, dem Erlöser benannt ist.


Zu Wolfgang Sréter :

Geboren in Passau. Lebt als freier Autor in München.
"Der falsche Fräser", Erzählung, lichtung verlag, Viechtach ISBN 3 - 929517 - 55 - 8
Bis 24. 8. bei den Schloßfestspielen in Ettlingen "Das Cabinet des Doktor Caligari - ein Schauspielmusical"
Theater Blaue Maus München "Der Jazzdirigent - ein Solo für eine Schauspielerin", Premiere 22. Okt. 2003