Die Tür schien beim Öffnen zu jammern, knarrte leise, so als sei sie unwillig, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Wenn sie wüsste, dass dieser Schlaf nicht mit dem Leben enden würde … aber es war ja nur eine Tür, die konnte nichts wissen und konnte auch nicht jammern.
Fast ärgerlich schob sie ihre Gedanken beiseite, drückte die Tür vollends auf und betrat den Gang, der das große Haupthaus mit dem riesigen Wohnzimmeranbau verband. Sofort schlug ihr wieder der Geruch des Vergangenen entgegen, etwas muffig … nach Staub und Verfall, und die Ruhe, die Ruhe, die dieses alte Gebäude erfüllte, als wolle es ihr ein letztes Mal zeigen, wie gut es mit seinen dicken Mauern in der Lage war, seine Bewohner vor der Welt draußen und ihrem Lärm zu schützen.
Aber es gab niemanden mehr, der diesen Schutz genießen wollte. In einigen Wochen würden die Bagger anrollen und alles zerstören.
Sie betrat das Wohnzimmer, besser gesagt die Wohnhalle, in der immer noch einige Teppiche ihre Schritte dämpften, die weniger wertvollen vermutlich, denn alles, was noch einen Gewinn versprach, hatten die süddeutschen Erben gleich nach Christines Tod ausgeräumt.
Christine, so hatte sie sie zu Lebzeiten nicht nennen dürfen, hatte überhaupt nur fünf- oder sechsmal in all den Jahren mit ihr gesprochen, obwohl die fensterlose Seitenwand des Hauses die Grenze zu ihrem eigenen Garten bildete, sie also direkte Nachbarn waren. Seine Mauern hatten auch sie geschützt vor den neugierigen Blicken der Außenwelt, ihren Garten zu einem verwunschenen kleinen Paradies gemacht. In den verwitterten Belüftungsschlitzen der roten Backsteinwand hatten Unmengen von Spatzenbabys das Licht der Welt erblickt und gierig nach Nahrung ihre Schnäbelchen hinausgestreckt, und sogar ein Bienenvolk hatte sich vor vielen Jahren eingenistet und bestäubte immer wieder aufs Neue emsig die Blüten ihres Apfelbaumes.
An der Stirnseite hing noch immer schwarz gerahmt ein bräunliches großes Foto von Paul mit Kaiser-Wilhelm-Bart, der das Haus um 1900 erbaut und auf dem weitläufigen Gelände seine Baufirma gegründet hatte, von deren reger Tätigkeit noch etliche halbverfallene Holzschuppen, Lager- und Handwerkshäuser zeugten.
Aus achtlos für den Müll zusammengeworfenen alten Unterlagen, Fotos und den Erzählungen einiger sehr alter Menschen aus der Nachbarschaft hatte sie sich die Geschichte der Familie in etwa zusammenreimen können:
Paul und seine Frau hatten „nur“ eine Tochter bekommen – für einen Unternehmer damals sicher eine Katastrophe. Er hatte sie dann mit einem seiner Ingenieure verheiratet, zumindest vermutete sie, dass es nicht ganz freiwillig geschehen war, denn dieser hatte die Glupschaugen in die Familie gebracht, die später auch Christine zieren würden, und war auch sonst nicht von besonders ansprechendem Äußeren gewesen. Mochte sein, dass es trotzdem Liebe war zwischen den beiden, wer wusste das schon?
Auch ihm wiederum war nur eine Tochter vergönnt, Christine eben, die besagte vorstehenden Augen geerbt hatte und vermutlich nicht an „den Mann gebracht“ werden konnte, ja, es noch nicht einmal zu einer einzigen Liebschaft im Leben brachte, wie das der alte Herr Huber von gegenüber ausdrückte.
Ein trauriges Leben, stellte sie sich vor, das Christine gelebt hatte. Ein schüchternes kleines Mädchen, als junge Frau dem Druck der Eltern ausgeliefert, die sich nichts sehnlicher wünschten als eine Fortführung des Familienlebenswerkes, der Firma.
Das Kind und die junge Frau immer umgeben von Ingenieuren, Handwerkern und Arbeitern, die teilweise auch mit in den oberen Etagen des Hauses gewohnt hatten. Vielleicht hatten sie ihr ab und zu einen Scherz zugeworfen, möglicherweise nur, bis sie anfing, im Büro mitzuarbeiten. Von da an zählte sie zu den Respektspersonen und war tabu für Neckereien.
Und dann kam der Krieg, just als sie im besten heirats- und gebärfähigen Alter war. Weg waren die Männer, und ihr Vater mit ihnen. Als er angeschlagen heimkehrte, dümpelte die Firma noch ein paar Jahre vor sich hin, bevor er endgültig erkrankte und nach langer Pflege durch seine beiden Frauen starb.
Bis in die siebziger Jahre hinein lebte Christine dann mit ihrer Mutter allein im Haus, musste auch diese zum Schluss pflegen, bevor sie starb.
Hier musste es passiert sein, hier in diesem Raum. Sie stand auf den schwarz-weißen Marmorplatten der Eingangshalle und schaute ins ehemalige Elternschlafzimmer hinein. Das schwere hölzerne Doppelbett hatte seine Spuren auf dem Linoleum hinerlassen und sie sah Christine vor sich, wie sie auch nach dem Tod der Mutter täglich gelüftet und die Tagesdecke aufgeschüttelt hatte. Sie hatte nie etwas verändert im Haus: Sämtliche Möbel, Gardinen, Teppiche, ja, selbst die Gerätschaften in der Küche waren viele Jahrzehnte alt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Christine hatte sie einfach angehalten, lebte in einem verstaubten Museum. Selbst der große, intarsienverzierte Schreibtisch im Büro ihres Vaters stand noch mit Stift und Papier einsatzbereit da, als wäre dieser noch im Krieg und sie erwarte ihn jeden Tag zurück.
Sie wandte sich vom Schlafraum ab und zur Treppe hin, die rings um die Halle in die oberen Etagen führte. Was mochte hier früher für ein Leben geherrscht haben, wenn schwere Arbeiterstiefel nach oben und unten polterten, dazwischen eine kleine Kinderstimme und die der Hausfrau, die, im bodenlangen Kleid noch, zur gemeinsamen Mahlzeit rief. Vielleicht, nein, wahrscheinlich hatten sie auch eine Köchin gehabt, die dann das Essen auftrug, nachdem man sich im großzügigen Speisebereich des Wohnzimmers versammelt hatte.
Auch oben hatte Christine trotz ihrer Gehbehinderung nach einem Schlaganfall noch täglich nach dem Rechten gesehen. Das hatte sie drüben am Klappen der Fenster gehört. Sie stellte sich vor, wie die einsame alte Frau sich mühsam nach oben schleppte, begleitet vom dumpfen Pockpock ihres dreibeinigen Gehstockes auf der hölzernen Treppe.
Sie hätte nicht so allein sein müssen. Bei jedem ihrer spärlichen zufälligen Kontakte hatte sie ihr angeboten, für sie da zu sein, falls sie Hilfe brauche, und hatte ihr auch ihre Telefonnummer gegeben. Ein einziges Mal nur hatte sie davon Gebrauch gemacht, als sie einen feuchten Fleck an ihrer Wand bemerkte und den Verdacht hatte, dieser könne von „drüben“ verursacht worden sein. Ausgerechnet ihr Mann, der sonst nie an den Apparat ging, hatte abgehoben und vernahm ein Stimme, die sagte: „Hier ist ihre Nachbarin. Könnten sie bitte einmal zu mir kommen?“
Er war auch sogleich losgelaufen, allerdings zum falschen Haus, nämlich zum Nachbarn auf der anderen Seite, weil er gar nicht auf die die Idee kam, dass es sich um Christine handeln könnte, die sich ja auch nicht mit Namen gemeldet hatte. Nebenan öffnete der Ehemann, und als ihr Mann diesem mitteilte, er käme auf Wunsch von dessen Gattin, da war der mehr als verblüfft …
Ansonsten hatte Christine sich nie gemeldet, hatte es vorgezogen, allein in ihrem stillen Museum auf den Tod zu warten. Einmal war ein Schrei von drüben zu ihr herübergedrungen, und sie hatte alles stehen und liegen gelassen und war rübergerannt. Das große Eingangstor war zum Glück nicht verschlossen … sie rief laut und stand einer sehr verdutzten Christine gegenüber. Sie hatte lediglich eine Katze verjagt und fragte nun ganz erstaunt: „Wie, und da kommen sie extra rüber?“
Sie schien es nicht gewohnt zu sein, dass sich jemand um sie kümmerte, und sie selbst kümmerte sich auch um niemanden.
Sie hatte sich kurz bedankt und ihr dann mehr oder weniger höflich zu verstehen gegeben, dass ihre Anwesenheit überflüssig sei, und so war sie davongetrottet, grübelnd, ob und wie ein Zugang zu diesem verbitterten Menschen möglich sein könnte.
Nun, inzwischen hatte sich das erledigt. Christine war tot, war nach mehreren Tagen erst gefunden worden, just an dem Tag, an dem sie selbst nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt nach Hause zurückkehrte …
Sie war wieder zurück im Erdgeschoss, betrat ein letztes Mal das Bad neben der Küche mit seiner antiquierten Einrichtung. Hier mochte Christine gekeucht und geflucht haben, wenn sie sich abmühte, in die Wanne zu gelangen … oder hatte sie sich vielleicht nur noch am Becken waschen können?
Egal, bald würden die Bagger kommen und kein Mensch würde sich jemals mehr dafür interessieren, wer in diesem Haus gelebt, geliebt, gelacht, geatmet, gelitten hatte. Von all diesen Menschen würden keine Spuren zurückbleiben (außer dass sich die ohnehin betuchten Erben des Verkaufserlöses erfreuten), genauso wie von unzähligen Menschen vor und auch nach ihnen, und genauso wie von ihr selbst, denn auch sie würde eines Tages von dieser Erde abtreten, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Würde auch von ihr nichts zurückbleiben, würde auch sie ins Nichts verpuffen, und war das überhaupt wichtig? Wenn er nicht gerade Sokrates, Goethe oder Hitler hieß, verblasste die Erinnerung an einen Menschen immer, wenn niemand mehr da war, der ihn gekannt hatte, selbst wenn seine Gene noch weitergereicht wurden.
War Christines Leben nutzlos gewesen, hatte es einen Sinn gehabt? Gab es überhaupt einen Sinn des Lebens an sich, wenn man nicht an einen Gott glaubte? Musste nicht vielmehr jeder für sich selbst danach suchen, und konnte man nicht auch genauso gut ganz ohne Sinnsuche glücklich vor sich hin leben? Stellten ihre Rundgänge durch das verlassene Haus den Versuch dar, mit der eigenen Vergänglichkeit umgehen zu lernen?
Fragen über Fragen, und zumindest die würden nach dem Abriss des Anwesens bestehen bleiben …
Die Tür seufzte beim Öffnen wieder leise, so als klage sie über die Vergänglichkeit allen Seins, und sie trat hinaus ins Freie – kehrte in die Welt der Lebenden zurück.
© H. S.
User | Diskussion |
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Gast | Geschrieben am: 27.04.2009 00:49 Aktualisiert: 27.04.2009 09:29 |
![]() "Beim Autorentreffen haben mir die Kerls schier den Kopf abgerissen...."
Wieso das denn? Dazu hätt ich gern näheres gewusst. Gern auch als PN. |
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Subura | Geschrieben am: 22.04.2009 21:45 Aktualisiert: 23.04.2009 19:32 |
![]() ![]() User seit: 27.02.2007 aus: Niederrhein Beiträge: 7887 |
![]() Danke euch für die Kommentare - ihr glaubt gar nicht, wie ich mich freue darüber, denn beim Autorentreff haben mir die Kerls schier den Kopf abgerissen für diese Geschichte, die übrigens fast vollständig authentisch ist.
Noch steht die Backsteinwand an meinem Garten und die Bienen sind bereits fleißig ... Christine - auch das ihr echter Name - starb völlig allein dort drüben. Als Subimann mich vor nunmehr über sechs Jahren nach vier Wochen aus dem Krankenhaus abholte, stand der Leichenwagen nebenan. Seitdem beschäftigte mich das alles sehr stark, zumal ich lange Zeit den Schlüssel verwaltete und etliche Male diesen Rundgang durch das wunderschöne Haus gemacht habe, welches mit jedem Knarren von seiner Geschichte erzählt. |
minke52 | Geschrieben am: 20.04.2009 23:40 Aktualisiert: 21.04.2009 09:15 |
![]() ![]() User seit: 15.01.2006 aus: Sachsen Beiträge: 2105 |
![]() Ja, genau diese Art Geschichten mag ich besonders. Ein schöner Text liebe Herta, ich bin beeindruckt. Es ist immer sehr interessant, was uns alte Häuser so erzählen könnten, da wird auch meine Fantasie beflügelt.
Ein trauriges Leben hatte Deine Protagonistin - und was bleibt? Nicht einmal Erinnerungen, wenn keiner mehr da ist. So etwas kann Angst machen, denn wer will schon einfach so vergessen werden? Gekonnt auch, wie Du ihr Aussehen beschreibst, ohne zu übertreiben und zu viel zu verraten. Es gibt nur ein markantes Detail, und das reicht völlig aus. Wenn ich das hier so lese, bekomme ich direkt Lust, auch wieder gedanklich in alten Häusern herumzuirren und eine Geschichte drum herum zu basteln. Also Herta - ein Lesegenuß - vielen Dank. LG minke ![]() ![]() |
lunka | Geschrieben am: 17.04.2009 22:22 Aktualisiert: 18.04.2009 14:39 |
![]() ![]() User seit: 19.07.2007 aus: Beiträge: 1222 |
![]() Traurige, nachdenklich machende Geschichte.
Je mehr man über die Vergänglichkeit nachdenkt, desto bewußter lebt man in der Welt der Lebenden? Achte ich darauf, Spuren zu hinterlassen, vor allem, gute Spuren zu hinterlassen, will ich unbedingt, dass man diese hinterlassenen Spuren überhaupt mir zuordnet, besonders nach meinem Tod? Ansonsten, jeder hinterläßt Spuren, mal da eine Blume gegossen, mal da einen (oder mehrere Bäume gepflanzt), mal über was Schönes nachgedacht, mal mit jemanden gesprochen oder einfach jemanden angeguckt und gelächelt, mal eine gute Tat vollbracht und und und. Die Spuren sind ja da, manche bleiben sehr sehr lange, manche sind personenbezogen, über manche freut man sich sehr, obwohl man gar keine Ahnung hat, von wem die eigentlich stammen und manche sind so schlecht, dass die nicht schnell genug verschwinden können. Ich weiß selbst nicht, ob das alles einen Sinn hat. Aber Spuren hinterlassen tut jeder einzelner Mensch. |
Gast | Geschrieben am: 17.04.2009 12:32 Aktualisiert: 18.04.2009 14:01 |
![]() Hall-oo-oh? Sonst keiner was zu sagen? Das ist ein sehr guter Text.
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Gast | Geschrieben am: 10.04.2009 01:29 Aktualisiert: 12.04.2009 14:24 |
![]() Schöner Text, gefällt mir gut. Wie vielen Frauen es wohl so ergangen ist? Einsam, als Haushälterin und später Pflegerin missbraucht. Irgendwann verbittert geworden.
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