Ein autistisches Mädchen besucht eine normale Grundschule – und ihre Mama kämpft für die Rechte behinderter Kinder. Von Petra Plaum
Auf den ersten Blick ist Anna Buchschuster, 10, ein ganz normales Mädchen. Wie sie im Klassenzimmer sitzt, über die Buchstabentafel gebeugt, wirkt sie besonders konzentriert. Die Erwachsene, die hinter ihr sitzt und ihre Arme umfängt, könnte sie ja auch einfach loben. Dass bei Anna manches anders ist als bei anderen, fällt erst auf, als ihr Lehrer Karsten Weigl die 3b in die Pause verabschiedet. Neun Mädchen und sechs Jungen springen auf, Anna bleibt sitzen. Die anderen lachen und rufen durcheinander, Anna bleibt ruhig. Langsam und wackelig erhebt sich das Mädchen. Nun fällt auch auf, dass ihre erwachsene Begleitung ihr hilft. Helfen muss.
Anna weist Züge von Autismus auf. Autismus bei Kindern bezeichnet Meyers Lexikon Online als ,,tief greifende Beeinträchtigung von Kommunikation und sozialer Interaktion, verbunden mit der Entwicklung stereotyper Handlungen. Ursache sind wahrscheinlich genetisch bedingte frühkindliche Hirnschäden“. Frühkindlicher Autismus tritt jedoch in seiner typischen Form bei Kindern auf, die sich motorisch normal entwickeln – anders als Anna, die erst mit drei laufen lernte. Ein Arzt, dem Martina Buchschuster ihre dreijährige Tochter vorstellte, untersuchte Anna gar nicht weiter: ,,Ihr Kind ist schwer geistig behindert“, befand er nach wenigen Minuten und machte der Mutter deutlich: Aus der wird wohl nichts. Sonderkindergarten, Sonderschule, Förderstätte? Diese Zukunftsaussichten akzeptierten die Buchschusters nicht. Martina Buchschuster ist nicht umsonst Rechtsanwältin: sie recherchierte früh über die Möglichkeit, Behinderte in Regelschulen zu integrieren. Trat der Landesarbeitsgemeinschaft Bayern von ,,Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e.V.“** bei und gründete in Augsburg den Ortsverein ,,elwela – Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen“. Und sie machte sich schlau in Sachen Autismus. Begeistert war sie von ,,facilitated communication (FC)“, auf Deutsch: gestützte Kommunikation. Dass ihre Tochter FC nutzen, also Geschriebenes lesen und verstehen kann, entdeckte Martina Buchschuster mit Hilfe von Kärtchen, auf denen ,,ja“ und ,,nein“ stand. Da war Anna nicht mal fünf.
Heute liest und schreibt sie viel, spricht einiges auch laut aus. Anna sagt Namen, ,,hallo“ und ganze schwäbische Sätze wie ,,Was hasch’n du da?“. Klar, die Klassenkameradinnen quasseln mehr. Sie verständigen sich mit Anna anders. ,,Ich spiele gern mit ihr und ihren drei Brüdern Verstecken und Fangen“, erzählt Anne. Und Maximilian findet ,,die Anna nett, manchmal macht sie lustige Sachen“. Er freut sich, dass sie stets eine Integrationshelferin zur Seite hat: ,,Die kann ich auch mal fragen, wenn ich was nicht verstanden habe“. Annas Klassenkameraden kennen es nicht anders – Klassenlehrer Karsten Weigl stellte sie und ihre Eltern vor vollendete Tatsachen. ,,Es war natürlich ein Experiment“, meint Martina Buchschuster heute. ,,Frau Buchschuster hat unsere Schule früh gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, ein behindertes Kind aufzunehmen“, meint Karsten Weigl. ,,Ich habe mir gedacht, probieren wir es aus“.
Wie viel macht Anna mit? Das ist auch heute noch ein stetes Ausprobieren. Beim Sportunterricht steht Basketball auf dem Programm. Während alle anderen sich warm laufen, legt Anna sich flach auf den Boden. Mit geschlossenen Augen spürt sie den Vibrationen des Untergrunds nach. Die anderen rennen in einem Bogen um das Mädchen herum. Als die anderen sich in zwei Mannschaften aufteilen und das Basketball-Spiel beginnen, setzt Anna sich zur Seite und spielt ihr eigenes Spiel: Sie schleudert ihren Ball in Richtung Wand und wartet, bis ihn ihr jemand zurückbringt. Es funktioniert, wieder und wieder. Immer andere verlassen das Spielfeld, um Annas Ball zu Anna zu rollen oder kicken. Annas wirkt zufrieden. Die anderen Kinder mögen schneller rennen und zielgenauer Bälle schleudern, doch ihr eigenes Spiel hat sie gewonnen.
,,So ein Sportunterricht – in einer Sonderschule ginge das nicht“, weiß Martina Buchschuster. Auch Annas Integrationshelferin findet: ,,Anna hat sich sehr entwickelt, seitdem sie zur Schule geht“. Sabrina Lohberger ist Heilpädagogin und begleitet Anna seit dem ersten Schultag. ,,Bald konnte sie erste Drei-Wort-Sätze tippen, und ihr Wortschatz ist schnell gewachsen“, erinnert sie sich. Motorisch kann das Mädchen ebenfalls immer mehr. ,,Ich führe ihre Bewegungen so, dass sie immer mehr selbst macht – unterstütztes Handeln nennt man das“, erklärt Sabrina Lohberger. Sie arbeitet mit mehreren Autisten und erklärt gern, warum viele mit ihren Händen und Füßen nicht richtig umgehen können: ,,Manche sagen, ihre Hände seien wie aus Watte. Versuchen Sie mal, mit Watte zu greifen.“
Was Annas Hände nicht vollbringen, tut sie manchmal mit den Füßen. Julia und Anne bauen eine Burg aus Schnee im Pausenhof, Anna kickt etwas Schnee dazu. ,,Komm, wir lassen uns für die Zeitung fotografieren“, ruft Anne plötzlich. Sie, Julia und Laura postieren sich grinsend um Anna herum, kichern, winken. Anna bleibt ernst. Und die erwachsene Beobachterin kann nicht umhin, sich zu fragen, ob Anna nicht die Reifste aus der Gruppe ist. ,,Wenn ich mir überlege, dass ich lange glaubte, dass Anna gar nichts versteht und nichts denkt...“ – Martina Buchschuster tut das heute sehr leid. Um anderen Eltern behinderter Kinder von Anfang an zu helfen, berät die Juristin sie, vertritt sie auch vor Gericht. Dass sie im September den Bundesverdienstorden bekam, sieht sie vor allem als Chance für mehr Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten. ,,Statt Integration oder Inklusion, wie die Fachbegriffe sind, nenne ich es Nicht-Aussonderung. Nicht-Aussonderung Behinderter ist ein Menschenrecht“, sagt sie und: ,,In anderen Ländern funktioniert das ja auch“. Noch überlegt die Familie, auf welche Schule Anna nach der Grundschule gehen soll – Annas Entwicklungsstand, aber auch die Örtlichkeit und das Lehrerkollegium werden eine Rolle spielen.
Zurzeit funktioniert der Familienalltag der Buchschusters wie der anderer Familien auch. Nach Schulschluss gehen Anna und Brüderchen Paul, zwei, erst mal hoch ins Kinderzimmer, spielen. Unten im Wohnzimmer erzähle ich Annas Mutter von einem Kleinkind mit frühkindlichem Autismus, das oft ins Krankenhaus muss. Plötzlich ist Anna wieder im Wohnzimmer, mit weiten Augen, zeigt, dass sie auf ihrer Tafel etwas schreiben möchte. ,,Junge“ tippt sie, und die Mutter fragt, ob sie den kleinen Bub im Krankenhaus meint. ,,Ja“, signalisiert Anna und ,,sauübel“. Belauschen, was Erwachsene reden? Ein Wort wie ,,sauübel“? Auch auf den dritten Blick ist Anna ein ganz normales Mädchen.
Infokasten:
Integration behinderter Kinder in Regelschulen: so klappt sie
möglichst früh die gewünschte Schule kontaktieren. ,,Zwei Jahre vorher sollten Eltern spätestens Kontakt aufnehmen“, rät Martina Buchschuster. ,,Wir Eltern brauchen ja auch Zeit, um uns an die Situation zu gewöhnen. Auch Lehrern sollte man Zeit geben, sich mit dem Gedanken, ein behindertes Kind aufzunehmen, anzufreunden“.
Lehrern Fakten und Artikel zum Thema geben, zum Beispiel die Zeitschrift ,,Bayerisches Integrationsinfo“ der Landesarbeitsgemeinschaft ,,Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e: V.“. Infos zu chronischen Krankheiten und Behinderungen können Eltern und Lehrer auch über das Kindernetzwerk e.V. abrufen, www.kindernetzwerk.de.
Fakten zur Integration behinderter Kinder gefällig? In Ausland ist sie vielerorts die Norm, so gehen z.B. in der Steiermark 91 % aller Kinder mit einer Behinderung zwischen Klasse 1 und 9 in die Regelschule. In Deutschland dagegen besuchen 95 % aller behinderten Kinder Sonderschulen – und acht von zehn Sonderschülern erhalten keinen Schulabschluss. In Bayern werden inzwischen immerhin 13 % aller behinderten Kinder integrativ beschult, davon 120 Kinder mit Down-Syndrom.
Integrationshelfer erleichtern es vielen behinderten Kindern, am Regelunterricht teilzuhaben. Die meisten Eltern suchen sich ihre Integrationshelfer selbst. Die Übernahme der Kosten ist beim zuständigen Sozialamt bei der Abt. Eingliederungshilfe zu beantragen. Infos zu gesetzlichen Grundlagen und Formalia gibt es ,,Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e.V.“, Adresse siehe unten.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft und Landesarbeitsgemeinschaften Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e.V. Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen“ wurde 1985 als Zusammenschluss der Landesarbeitsgemeinschaften gegründet und ist seit 2000 ein eingetragener Verein. Sie versteht sich als Eltern- und Selbsthilfeorganisation, die sich für ein gemeinsames Leben und Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung einsetzt. Kontakt zur LAG Bayern über www.integration-bayern.de
Gemeinsam leben - gemeinsam lernen
© Petra Plaum
User | Diskussion |
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lunka | Geschrieben am: 22.07.2008 21:29 Aktualisiert: 24.07.2008 10:07 |
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![]() ein sehr informativer Artikel, danke schön.
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