Wir hatten beschlossen, den Samstag gemeinsam herumzubringen, meine Schwägerin und ich mit unseren Kindern. Unsere beiden Männer mussten trotz des Wochenendes arbeiten, es regnete und war eiskalt. Ein idealer Tag fürs Kino, dachten wir.
Unsere Kinder sind sehr unterschiedlichen Alters. Meine älteste Nichte ist bereits vierzehn, dann kommen meine drei Söhne und eine weitere Kusine, alle so zwischen zwölf und sieben, und vor einem halben Jahr hat meine Schwägerin noch eine kleine Nachzüglerin geboren, Romy.
Der Film musste also allen Kindern Spaß machen, und so entschieden wir uns zügig für „Unsere Erde“, ein Naturfilm, wie schön.
Wir setzten uns also in die U-Bahn, fuhren zum Mathäser-Kino, stellten uns in zwei unterschiedlichen Reihen an, gaben unseren Kindern Geldscheine, damit sie ihren unersättlichen Hunger nach Tonnen von Popcorn und ihren daher rührenden unersättlichen Durst nach Litern von Cola während der Vorstellung stillen könnten, und warteten.
Nach ungefähr zehn Minuten konnte man auf einem kleinen Bildschirm über den Häuptern der Kartenverkäuferinnen sehen, dass bei unserem Film die Werbung anfing. Nach ungefähr einer Viertelstunde kamen wir dran.
„Zwei Erwachsene und sechs Kinder“, bestellte meine Schwägerin, „ach nein, fünf, die Kleine braucht doch noch keine Karte, gell“, fügte sie hinzu, lächelnd auf das im Kinderwagen schlummernde Baby weisend.
Die Kartenverkäuferin tippte in ihren Computer, warf einen kurzen Blick über den Tresen in den Kinderwagen und sagte kopfschüttelnd, „ne, das geht nicht, das können sie nicht mitnehmen.“
Ach, nein?
Nein, sagte die Kartenverkäuferin, der Kinderwagen versperre die Fluchtwege im Kinosaal.
Kein Problem, meinte meine Schwägerin freundlich, nimmt sie das Baby halt auf den Schoß.
Das geht nicht, meinte die Kartenverkäuferin, wer ins Kino geht, braucht einen Sitzplatz, egal, ob er auf dem Schoß sitzt oder nicht.
Kein Problem, sagte meine Schwägerin geduldig, kauft sie für das Baby halt auch eine Eintrittskarte.
Das geht nicht, meinte die Herrin über die Kinokarten nun schon etwas schmallippig, der Film sei erst ab sechs Jahren freigegeben.
„Unser Film fängt an“, bemerkte mein Sohn, der versuchte, einen Megapott Popcorn balancierend, schon etwas Cola zu trinken, mit einem Blick auf den kleinen Bildschirm über dem Tresen.
„Hören Sie“, sagte ich, „ die Kleine ist sechs Monate alt. Sie kriegt doch von dem Film noch gar nichts mit. Es ist ein Naturfilm; so schlimm kann´s ja wohl nicht werden. Wir sind acht Leute, die alle nicht ins Kino können, wenn das Baby nicht mit kann. Das Baby schläft. Wenn es aufwacht und schreit, geht meine Schwägerin eben raus.“
Die Kartenverkäuferin sah woanders hin.
Wir waren rat- und fassungslos. Auf dem Bildschirm trudelte ein kleiner Eisbär einen Schneehügel hinunter. Die Stimmung der Kinder sank unter den Gefrierpunkt.
„Ich möchte mit dem Geschäftsführer sprechen, oder mit irgendwem, der das bestimmen kann!“ rief ich ärgerlich. Der Kartenzerberus kniff den Mund zusammen, nahm einen Telefonhörer und tippte eine Nummer ein. Sie drehte sich um und redete leise in den Hörer hinein. Sie nickte immer wieder und sagte dann, ehe sie auflegte, „ ja, hab ich ihnen auch schon gesagt.“
Dann wandte sie sich mit dem angestrengten Lächeln an uns, das man aufsetzt, wenn man eine sehr schwierige Nachricht zu übermitteln hat.
„Mein Chef sagt auch, dass es nicht geht. Es liegt an der Versicherung. Das Baby ist nicht versichert, wenn es in einen Film geht, der nicht dafür freigegeben ist. Stellen Sie sich vor, es löst sich eine Platte von der Decke. Das überlebt es nicht. Das verstehen Sie doch, oder?“
„Ich möchte mit keinem meiner Kinder in ein Kino gehen, in dem sich Platten von der Decke lösen“, meinte meine Schwägerin erschüttert und wandte sich ab.
„Gehen wir jetzt rein?“ fragte mein einer Sohn.
„Ich könnte mit dem Baby draußen warten“, sagte meine Schwägerin erschöpft.
„Entweder wir gehen alle, oder keiner“, erklärte ich traurig.
Wir schlurften an einen der Stehtische des Kinofoyers und stellten alle Megapötte, Apfelschorlen und Colabecher darauf ab, die unsere Kinder für den Kinobesuch erstanden hatten.
Wir boten den Kindern an, dass sie das Geld, das die Kinokarten gekostet hätten, in der Stadt verplempern dürften. Wir aßen das Popcorn und tranken die Colas. Die Kinder verfolgten den Film auf dem kleinen Bildschirm.
Plötzlich erhellte sich die Miene meines ältesten Sohnes.
„Ich weiß was!“ rief er erleichtert aus, „wir gehen in einen Film ab Null Jahre!“
Die Filme liefen alle schon zwanzig Minuten, es war eigentlich sinnlos. Aber die um ihr Kinoerlebnis betrogenen Kinder suchten nun fieberhaft nach einem geeigneten Film. Sie entschieden sich für „Total durchgeknallt“, freigegeben ab 0 Jahren.
Die Kartenverkäuferin empfing uns mit einem Blick, als spiele sie die Hauptrolle in „Total durchgeknallt“.
„In einen Film ab 0 Jahre darf man doch, wenn man älter ist als 0 Jahre?“ fragte ich.
„Ja, aber nicht, wenn man ein Baby ist“, konterte sie souverän.
„Wieso“, sagte mein Sohn aufgeregt, „ sie ist doch sechs Monate alt. Also“, meinte er triumphierend, „also ist sie 0,5 Jahre alt. Das ist mehr als 0. Es heißt freigegeben ab 0 Jahre!“
Das Kartenfräulein dachte nach.
„Von mir aus“, sagte sie mit zögernder Miene und setzte patzig hinzu, „aber gut ist es nicht für ein Baby.“
„Fallen in dem anderen Film keine Platten von der Decke?“ erkundigte sich die mittlere Tochter meiner Schwägerin.
„Die Filme laufen jetzt schon über eine halbe Stunde“, meinte meine Schwägerin, „ das hat doch gar keinen Sinn mehr.“
Wir aßen unser Popcorn auf. Meine älteste Nichte Clara studierte die Werbeflyer für die anderen Filme. Einer davon warb für den Film „Juno“, in dem eine vierzehnjährige ein Baby bekommt. Der Slogan des Filmes lautete: „Schwanger, na und?“
Clara kritzelte auf dem Zettel herum, und als wir das Kino verließen, legte sie den Flyer auf den Kassentresen. Ich ging hinter ihr und blieb kurz stehen, um zu lesen, was sie darauf gekritzelt hatte.
Unter „Schwanger, na und?“ hatte sie geschrieben, „Ja, aber Kino kannste bald vergessen!“
© Julia-Maria Bütow
User | Diskussion |
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puenktchen | Geschrieben am: 07.05.2008 22:22 Aktualisiert: 07.05.2008 22:52 |
![]() ![]() User seit: 24.10.2005 aus: Beiträge: 2227 |
![]() Bürokratie ist nun mal Bürokratie, was soll man dazu sagen, es ist eben so.
Ab welchem Alter ist man denn versichert, wenn einem die Decke des Kinos auf den Kopf knallt?? Ehrlich, unter diesen Umständen und bei diesen Argumenten würde ich dieses Kino, auch als Erwachsener, absolut meiden. |
jippie | Geschrieben am: 07.05.2008 22:06 Aktualisiert: 07.05.2008 22:52 |
![]() ![]() User seit: 30.12.2005 aus: Beiträge: 3928 |
![]() Bin ich jetzt wieder herzlos, wenn ich es auch nicht so prickelnd finde, mit einem 6 Monate altem Baby ins Kino zu gehen?
Allein schon wegen der Lautstärke. Man setzt ein Baby ja auch nicht vor einen Fernsehen. Aber bitte, jeder nach seiner Fasson. |
Gast | Geschrieben am: 07.05.2008 12:01 Aktualisiert: 07.05.2008 22:50 |
![]() Eine absolut entzückende Geschichte!
Vielen Dank dafür. Man weiß nicht, ob man vor Lachen prusten soll - oder ob einem das Lachen im Halse stecken bleibt... Bravo. Herzlichst Tara Tamon ![]() |
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