Werden Gefühle erwachsen?
J.S.Bach - Passacaglia c-moll (Orgel)
Der Raum so voll, die Menschen noch hüstelnd und sich auf ihren Stühlen hin und her bewegend, in Kissen-Kuhlen drückend für die kommende Zeit, die gefüllt sein wird mit Musik. Die meisten blicken noch um sich, bis plötzlich die vorne Sitzenden anfangen zu klatschen.
Der Meister, Gastgeber und Musiker in einer Person, steht neben der Orgel und wartet auf die Ruhe. Diese folgt unverzüglich. Man kennt sich hier, und man kennt sich hier aus.
Er legt sehr viel Wert darauf, dass alle begreifen, warum und weshalb er genau die Stücke spielen wird die er spielen wird.
Um mich herum Dunkelheit. Als einziges Licht die Lampe über den Notenblättern vor dem Manual der Orgel.
Bach, am Anfang kalt und fremd weil elektronisch-orgelnd klirrend, bis die ersten Töne sich in Musik wandeln und das Ganze Konturen bekommt.
Ich steige ein und lasse mich langsam fallen.
Bach - Gottes Hauskomponist, sagen die Prosaischen.
Sollte ich ihn deshalb weniger mögen? Er berührt mich immer wieder, seine Musik -so alt und wohlbekannt, benutzt und verfremdet. Noten wie eine Leiter zum aufsteigen in klare Himmel.
Der Saal, weit und frei bis unter des Hauses Dach, bekannt und doch stets neu erfühlt und mittendrin der Steg! Des Meisters Laufsteg aus hell glänzendem Parkett, lädt mich ein darauf zu tanzen, in Gedanken bloß, ansonsten wäre es Blasphemie.
Dieser besondere Raum: so hoch, weit und rund.
Auf der einen Seite sitzen die Zuhörer im Halbrund und ihnen gegenüber wenn auch weit weg und geteilt vom legendären Laufsteg, die Plattform mit Orgel und klangschönem Schimmel-Klavier.
Dass seitlich vom Steg der Boden fehlt und ersetzt wird durch engmaschige Netze die den Blick auf eines der Wohnzimmer freigeben, lässt auch die Distanz zwischen Musiker und Zuhörer aufs deutlichste bewusst werden. Es dient als Übergang von einer Welt in die Andere: hier das irdisch-menschliche Dasein, und dort die unantastbare himmlische Welt der Töne. Allein noch die Noten-Umblätterer werden auf der andern, heiligen, Seite geduldet.
Bach hält mich gefangen, nicht in engen Fesseln, sondern in leichten feinen Schnüren, die mich sanft ziehen - in eine Musiklandschaft, von der ich mich bereitwillig erfüllen lasse.
J. Brahms - Bearbeitung der chançonne d.moll von J.S.Bach (Klavier)
Klänge, noch anpassungsnötig fürs Ohr nach den lauten Orgeltönen, ziehen mich aus meiner Lethargie. Ich fange an auf ihnen zu spazieren, mit ihnen weiter zu gehen.
Sie nehmen mich mit, wir wandern durch den Raum. Ich schwinge mich gemeinsam mit ihnen hoch hinaus und balanciere auf den Balken, die das hohe Dach des Hauses tragen. Lachend locken mich diese verzaubernden Töne und werfen mich auf mich selbst zurück.
Dann geleiten sie mich wieder in meine Haut hinein und streicheln sie zart und um Verzeihung bittend.
J.Haydn - Variation f-moll (Klavier)
Klare leichte Töne, hell und sonnig. So fremd, doch wie von ewig her vertraut.
Ich blicke nach oben, fühle mich einsam.
Dort, durch die vielen großen Fenster inmitten des hohen Daches, sehe ich in der Abenddämmerung die Spitzen hoher Bäume.
Der alte Wasserturm neben dem Haus gehört zum Stadtpark, dessen Bäume dort schon lange ihren festgewachsenen Platz haben. Ihre Kronen wiegen sich im leichten Herbststurm. Es ist ein normaler Novemberabend. Grau, feucht, windig, nordig.
Auf einem der Fenster liegt ein Blatt, hingeweht und allein gelassen. Es klebt an seinem Untergrund und ich frage mich, ob es dort bleiben will. Es wird nicht wegfliegen bis ein mitleidiger Wind es trocknet und mit sich hinweg trägt.
Wäre es lieber ein freies Blatt, das sich wirbelnd vom Herbststurm hinweg tragen ließe, um in einer Rinne zu landen, oder bliebe es lieber in der Gesellschaft vieler Blätter unter den feuchten Sohlen eines Kinderstiefels kleben?
Will es auf der Schulter eines kleinen Jungen landen und in einer warmen Küche vom Pullover weggestreift werden?
Und klebte ein zweites Blatt neben ihm, wäre seine Einsamkeit genauso groß? Würde es weiterträumen von endlosen Flügen mit dem Herbstwind, von weiten Feldern, tiefen Flüssen, Bergen hoch und weit, trockenen Springbrunnen und modrigen Bachufern?
Was, wenn alle Blätter solche Träume haben?
Das Blatt ruft mich immer wieder, sobald ich meinen Blick von ihm abwende.
Es klebt hilflos, so wie ich.
Doch ich weiß, dass ich gehen werde, wenn es denn so weit ist. Wohin auch immer.
Der Himmel über uns dunkelt immer schneller.
F.Busoni - Bearbeitung der chanconne d.moll von J.S.Bach (Klavier)
Wie unterschiedlich doch das gleiche Thema bearbeitet sein kann.
Emotions- und tongewaltig, aufbrausend, zärtlich, sogar wehmutsvoll zum Schluss hin, um dann am Ende sich in einer Art Schmerz aufzubäumen.
Das Blatt zieht an meinen Blicken, und ich will es trösten. Ich weiß, es ist nicht allein.
Und dann entdecke ich am Nebenfenster weiter unten ein zweites Blatt. Ich freue mich und hoffe, beide könnten sich einen, sich verbinden auf eine Art, die ich nicht zu definieren fähig bin. Blatt-Union?
Ich schaue blicklos in den dunklen Himmel und ahne die Schatten der hohen Baumwipfel.
Pause.
Ich will die Menschen nicht um mich herum. Neunzig seien es heute Abend, außergewöhnlich viele, meist sind es nur zwanzig, höchstens dreißig.
Irgendjemand drückt mir ein Glas Prosecco in die Hand und ich sehe den Meister vorbeihuschen, neben ihm sein kleiner Sohn mit der Katze im Arm.
Ich will mich nichts fragen, will nur sein.
Wie soll mir das gelingen? Als Unbourgeoise inmitten der Großbourgeoisie, die nicht einmal groß ist, sondern nur laut.
Ich denke an den Tag der gestern heißt, und an Tage die Vergangenheit sind.
Manchmal noch sehne ich mich, so wie die Töne von eben sich gesehnt haben.
Und doch wissend, dass ich nicht wissen will, wonach.
Zeitfragmente, Augenblicke einzeln abrufbar.
Ich wollte weglaufen um mich bloß nicht wohl fühlen zu müssen.
Wollte weglaufen, um bloß nicht weggeschickt zu werden, wollte weglaufen um nicht sehnen zu müssen, wollte weg um nicht bleiben zu wollen. Wollte weg.
Und jedes Mal flüchtete ich. Der Zeitpunkt war immer der richtige, auch wenn es manchmal nicht meiner war.
Ich tat was gut und richtig war, nämlich Nähe vermeiden wenn ich es nur schaffte.
Jetzt und hier, in diesem Raum mit den Menschen und den Restklängen von Musik, beginne ich nach mir zu suchen.
Leid tut mir längst die verlorene Hingabe an Träume, die jung bleiben wollten.
Träume, die sich weigerten mit mir zu altern und sich mir anzupassen.
Träume, die vernünftig geworden und angepasst, blieben übrig.
Schreie! Ich schreie. Hört mich keiner? Ein Glück.
Keine Menschen mehr um mich herum, sie gehen die Treppe hinauf zum Raum der Musik. Sie brauchen noch einige Minuten, bis sie sich auf ihren Plätzen wieder eingekuhlt haben.
Ich schreibe längst in Gedanken.
Und wenn ich wirklich schreiben würde?, denke ich.
Wenn ich all das schreibend sagen würde, was mich so bewegt?
Was hätte ich davon?, denke ich mir.
Ich versuche einzuschätzen, was es bedeuten würde.
Alle erschlagen, kommt mir sofort in den Sinn.
Alle erschlagen mit meinen Worten und all dem was sie tragen.
Ein Mensch der schreibt, will gelesen werden.
Ein Mensch der malt, will geschaut werden.
Ein Mensch der Musik macht, will gehört werden -
alle brauchen sie die Gewissheit, dass man sie liest, sieht, hört.
Doch tun sie es allein für ihre Gegenüber oder auch für sich selbst?
Könnte ich damit umgehen? Mit den Konsequenzen des Schreibens?
Des Fühlens?
Wie wäre das, an nichts anderes denken als an den Augenblick, ihn einfach zu leben, so wie jede Sekunde sich mir bietet, nicht an ein verlebtes gestern denken und ein ungelebtes morgen? Nur jetzt, nur sein? Und mit jedem Augenblick des Seins, das Leben gehen und sich ihm ergeben?
Sich fallen lassen, nicht mehr denken,
nicht mehr müssen, nicht mehr sollen, nichts wollen -
einfach sein......
© Ghita Cleri
User | Diskussion |
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lunka | Geschrieben am: 21.03.2009 23:58 Aktualisiert: 23.03.2009 17:31 |
![]() ![]() User seit: 19.07.2007 aus: Beiträge: 1222 |
![]() Du kannst die Sachen (und Menschen) so gut beschreiben, dass ich, wenn ich deine Texte lese, automatisch "mein Kino im Geiste" anmache, genau gesagt, es macht sich selbst an, ich tue da nicht viel.
Auch kommt mir so Vieles sehr bekannt vor, Manches kann ich sogar nachvollziehen. Deine Texte, die sind so was wie "für die Seele geschrieben", für mich als Leser auf jeden Fall. |
MonikaGe | Geschrieben am: 19.03.2009 08:37 Aktualisiert: 19.03.2009 11:38 |
![]() ![]() User seit: 23.09.2008 aus: Beiträge: 74 |
![]() Danke für den schöen lyrischen Text, liebe Ghita.
Bei den blauen Passagen fiel mir ein Satz ein (habe vergessen, von wem der stammt): "Wenn du morgens aufwachst und kannst an nichts anderes denken als zu schreiben, dann bist du eine Schriftstellerin." In diesem Sinne... Herzlichst! Monika P.S. Und in Abwandlung des berühmten "cogito ergo sum" wäre das: "Ich schreibe, also bin ich." Klingt das bei Dir? ![]() |
Gast | Geschrieben am: 17.03.2009 13:23 Aktualisiert: 17.03.2009 23:32 |
![]() Ghita, Ghita, du schaffst es immer wieder mich mit deinen Texten zu berühren. Ganz ehrlich? Du bist eine der wenigen Autoren, die es schafft, nicht rührselig zu sein. Bitte mach was aus deinem Talent!
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