HOME NEWS LINKS FORUM TEXTE PRESSE IMPRESSUM
   Registriere dich auf der Hausfrauenrevolutions Seite!    Login  
Login
Newsletter
[ANMELDEN]
[ABMELDEN]


Texte : Gerhard Gottwald- Begegnungen mit Anna
Veröffentlicht von MarieTheres am 06.02.2008 18:58 (493 x gelesen)

1964 sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Anna war 4 Jahre alt und ich 6. Sie war die Tochter unseres Pensionswirts ganz am Ende des Gsieser Tals in Südtirol. Dort verbrachte ich mit meinen Eltern die Sommerferien. Die Anna von damals hab ich als nett in Erinnerung, aber nicht als so besonders wichtig. Sie hatte blonde Zöpfe, blaue Augen und immer schmutzige Knie. Ich war mit ihrem Bruder Peter befreundet, und Anna spielte halt mit.

Bis wir uns das zweite Mal sahen, sollten 7 Jahre vergehen. Wieder waren wir in den Sommerferien dort. Peter war leider nicht da, sondern in einem Internat. Aber auch wenn er da gewesen wäre - diesmal galt mein besonderes Interesse Anna. Ihre Zöpfe waren länger, ihre Knie immer noch schmutzig. Aus ihr war ein sehr selbstbewusstes Mädchen geworden. Sie hatte eine große Klappe, übernahm gerne das Kommando und erklärte mir, wie das Leben in Südtirol funktioniert. Was hier italienisch ist und was deutsch, was an der Konkurrenz schlecht ist und an der eigenen Pension gut. Und sie war so hübsch mit ihren ausgeprägten Wangenknochen – vor allem, wenn sie lachte. Ich fand Anna ganz aufregend. Das erste Mal, dass ich ein Mädchen aufregend fand. Und sie schenkte mir entzückende Blicke aus großen blauen Augen mit leicht gesenktem Kopf. Hinter der Scheune bei der Pension hing eine Schaukel an einem dicken Ast. Anna saß drauf, und ich hab sie angeschupst. Und jedes Mal, wenn sie zu mir zurück schwang, legte sie den Kopf in den Nacken und lachte mich an. So kam es zum ersten Kuss in unserem Leben.

Ein Jahr später waren wir wieder in der Pension im Gsieser Tal. Und ich freute mich sehr, Anna zum dritten Mal zu begegnen. Sie versteckte sich am ersten Tag. Aber ich konnte beobachten, wie sie heimlich Ausschau hielt nach mir. Ich wäre ja gerne männlicher gewesen, erinnere ich mich. Leider hatte der Stimmbruch mit 14 noch nicht eingesetzt. Also hab ich meine Stimme beim Sprechen etwas dunkler gemacht. Und meine jüngere Schwester fragte: „Warum redest du denn so komisch?“ Am zweiten Tag liefen wir uns dann endlich über den Weg, aber Anna reagierte abweisend und zickig. Ich war davon sehr erschrocken und habe meine Enttäuschung ein paar Tage mit mir herumgeschleppt. Und dann habe ich mich einer gewissen Karin zugewendet, die aus Düsseldorf zugereist war. Zu meinem großen Erstaunen war Anna mit dieser Freundschaft überhaupt nicht einverstanden und ständig auf Streit aus. Aus heutiger Sicht schätze ich, dass Anna einfach ein bisschen schwierig war und von mir aufs Neue umworben werden wollte. Und ich hatte wohl die Flinte zu früh ins Korn geworfen.

Wieder 5 Jahre später – ich war mittlerweile 19 Jahre alt – stand ich kurz vor dem Abitur. Mein Vater hatte den Wunsch, „noch einmal mit der ganzen Familie“ gemeinsam in Urlaub zu fahren. Spontan fuhren wir in den Herbstferien zur geliebten Pension ins Gsieser Tal. Wir waren die einzigen Gäste, und wir hatten großes Glück mit dem Wetter. Es war ein sehr schöner Urlaub. Anna besuchte zu dem Zeitpunkt eine Hotelfachschule, denn sie sollte später den elterlichen Betrieb übernehmen. Am Freitagabend kam sie nach Hause. Beide Familien saßen beim Abendessen zusammen, als wir uns zum vierten Mal begegneten.

Und der Blitz schlug ein! Anna war zu einer vollkommenen Schönheit herangewachsen. Groß war sie. Hatte eine atemberaubende Figur. Die blonden Haare nicht mehr in Zöpfen geflochten, sondern lang bis in die Hüften fallend. Sie lächelte mit ihren volle roten Lippen und den perfekten weißen Zähnen. Und über den ausgeprägten Wangenknochen blickten mich ihre großen strahlend blauen Augen fassungslos an. Wir konnten gar nicht lassen voneinander, aber es war nicht möglich, uns das mit Worten zu sagen. Beide Familien saßen ja mit dabei. Also haben wir uns mit den Augen unterhalten. Später hatten wir nur die Möglichkeit für ein paar kurze Sätze und eine Verabredung: „Morgen Abend fahren wir nach Bruneck und gehen zusammen aus. Nur wir beide!“ Mein Vater hatte Verständnis, als ich ihm in wilder Entschlossenheit sagte: „Papa, ich brauch das Auto morgen!“ Aber es sollte alles anders kommen. Samstagsnachmittags um 15 Uhr rief der Geselle aus dem Betrieb meines Vaters an. Irgendein Vorfall erforderte die sofortige Abreise. Aus dem gemeinsamen Abend zu zweit wurde nichts.

Ein Jahr später war meine Schwester dort wieder zu Gast. Sie bestellte schöne Grüße von Anna und berichtete mir, „dass das immer noch ein Wahnsinnsweib ist“ und wohl in der Freitagnacht damals in ihrem Zimmer auf mich gewartet hat. Vielleicht hat sie auch in der Zeit danach gewartet. Dann hätte sie umsonst gewartet. Denn ich habe mich nicht mehr gemeldet. Wir hatten uns einfach noch nicht richtig gefunden, schätze ich. Meine Intentionen gingen dann auch bald in andere Richtungen – erst zu einer angehenden Schönheitschirurgin nach Paris, dann zu meiner jetzt wesentlich besseren Hälfte. Aber ich bin mir ganz sicher: Ich hätte mich anders verhalten, wenn wir diesen einen Samstagabend für uns alleine gehabt hätten.

20 Jahre später verbrachte ich mit meiner wesentlich besseren Hälfte und unserem Söhnchen den Sommerurlaub in der Toskana. Als sich der Urlaub dem Ende zuneigte und wir die Rückreise planten, kam mir die Idee, Strapazen und Strecke einfach zu halbieren und Station zu machen für ein paar Tage in Südtirol. Die Telefonnummer der Pension im Gsieser Tal hatte ich noch. Also rief ich dort an. Annas Vater war am Telefon: „Natürlich machen wir Ihnen etwas frei, kommen Sie nur. Wir freuen uns. Übrigens führt Anna jetzt die Pension!“ Dieser Satz fuhr mir wie ein Stromschlag in die Glieder. Meine wesentlich bessere Hälfte kannte diese Jugendgeschichte. Und so war sie fast genauso gespannt wie ich auf diese fünfte Begegnung mit Anna.

Viel hatte sich verändert. Der Betrieb stand unter enormem Konkurrenzdruck. Alle Pensionen im Tal hatten inzwischen einen Swimming Pool, also auch die kleine Pension am Ende des Tals. Alle hatten eine Kellerbar, also gab’s auch hier eine. Außerdem stand da jetzt ein zweites Gästehaus. Anna musste es schwer haben. Ich wusste, dass sie inzwischen verheiratet war und vier Kinder hatte.

Als ich Anna dann gegenüberstand, musste ich mich sehr zusammenreißen, damit mir mein Entsetzen nicht ins Gesicht geschrieben stand. Von Annas Schönheit war nichts mehr übrig. Gar nichts! Anna wog annähernd zwei Zentner und hatte eine merkwürdig unproportionierte Figur. Sie war schlampig gekleidet. Die langen Haare waren abgeschnitten und gefärbt, was schon länger zurückliegen musste. Ihrer grobporigen Haut und den gläsrigen Augen sah man an, dass Anna ein Alkoholproblem haben musste. Die Kinder bekam ich nie zu Gesicht. Ihr Mann lungerte abends in der Kellerbar herum, die ich schon nach wenigen Minuten mit depressiven Gedanken wieder verließ, ohne etwas zu trinken.

„Diese Frau ……“, erklärte meine wesentlich bessere Hälfte, „ …… hat noch NIE gut ausgesehen!“ In einem alten Hotelprospekt konnte ich ein Foto finden, in dem Anna als Modell posierte und das Gegenteil beweisen. Den Beweis brauchte ich auch für mich selbst. Ich konnte es einfach nicht fassen. Was war nur geschehen, dass Anna sich so hatte gehen lassen? Lag es an dem immensen Konkurrenzdruck im Gsiesertal? An dem Typ, der in der Depri-Bar herumlungerte? Oder lag es einfach an ihr selbst? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich sie hätte retten können, weil ich nicht weiß, ob zwischen uns eine dauerhafte Liebe entstanden wäre. Aber in dieser Kellerbar hätte ich ganz sicher nicht herumgelungert und nicht nachgelassen in dem bemühen aus meinem oder unserem (?) Leben etwas zu machen.

Ich habe ihr all diese Fragen nicht gestellt. Ich habe mit Anna überhaupt gar nicht so viel gesprochen. Aber bei der Abreise haben wir uns die Hand gegeben, uns angeschaut und für einen kurzen Moment mit den Augen geredet wie damals vor 20 Jahren. Ich habe darin genau dieselben Fragen gelesen: „Wie wäre unser Leben wohl verlaufen, wenn wir diesen einen Abend zu zweit gehabt hätten?“

ggg

© Gerhard Gottwald

Druckoptimierte Version Schicke den Artikel an einen Freund
Die hier veröffentlichten Artikel und Kommentare stehen uneingeschränkt im alleinigen Verantwortungsbereich des jeweiligen Autors.
User Diskussion
Gast
Geschrieben am: 11.02.2008 15:15  Aktualisiert: 11.02.2008 18:58
 Re: Gerhard Gottwald- Begegnungen mit Anna
Tja, auf diese Frage wird es wohl keine Antwort mehr geben, oder?
Eine schöne und berührende Geschichte, aber ein bisschen traurig.
puenktchen
Geschrieben am: 07.02.2008 19:02  Aktualisiert: 07.02.2008 23:02
User seit: 24.10.2005
aus:
Beiträge: 2227
 Re: Gerhard Gottwald- Begegnungen mit Anna
So ein déjà vue hat wohl jeder einmal im Leben, sollte man es Wirklichkeit werden lassen - ich glaube kaum, denn die Erinnerung ist immer schöner, als es eine Wirklichkeit oder Auffrischung von Erinnerung sein kann.

Es ist schade, wenn man sich Träume vermiest.
ghic
Geschrieben am: 06.02.2008 21:53  Aktualisiert: 06.02.2008 22:29
User seit: 18.01.2008
aus: Braunschweig
Beiträge: 124
 Re: Gerhard Gottwald- Begegnungen mit Anna
Was wir oft vergessen ist, dass wir alle im Leben die Wahl haben. Vielleicht wollte Anna ja nicht im Betrieb ihrer Eltern bleiben, doch sie blieb, vielleicht wolltest du Anna nicht wirklich, denn sonst hättest du dich anders verhalten, vielleicht hat Anna den einfachen Weg gewählt weil es eben der einfache war, das hast ihr mit deiner Anwesenheit klar gemacht, und muß schwer für sie gewesen sein damit konfrontiert zu werden. Alles vielleicht.
Aber klar ist: die Verantwortung fürs eigene Leben trägt jeder nur für sich selbst, nicht für den andern.



 

© Hausfrauenrevolution  |  Martin Wagner verwendete XOOPS  |