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Texte : Sabine Dreyer- Kein Weg zurück
Veröffentlicht von MarieTheres am 29.05.2008 11:29 (534 x gelesen)

Ganz oft heben Menschen staunend die Augenbrauen und werfen die Stirn in Falten (ja ja, das geht, ich kenne kaum Botox-Opfer), wenn sie hören, was ich beruflich so mache. Gerade hier „aufm Dorf“ teilen sich die Reaktionen der Wisser in Bewunderung oder Skepsis. „Oh, hast du es gut, daheim arbeiten … mit Büchern … dein Hobby zum Beruf gemacht“ oder auch „Und was machst du jetzt genau? … Damit kann man Geld verdienen? … Ist das nicht öde, langweilig oder einsam?“

Sie haben alle irgendwie recht mit ihren Reaktionen. Manchmal weiß ich selbst nicht so genau, was ich hier eigentlich Tag für Tag treibe, dann wieder kann ich es auch unheimlich genießen, wenn ich Dinge tun darf, die Spaß machen, die spannend sind und von denen ich selbst was habe, weil mir diese Arbeiten auch was geben: neues Wissen, nette Kontakte zu Menschen, Freundschaften … es kann ganz wunderbar sein.

Aber es gibt natürlich auch Schattenseiten, wie im Alltag aller Selbstständigen. Und einen ganz großen Schatten wirft tatsächlich die Einsamkeit, in der man so oft vegetiert. Daheim am Schreibtisch zu arbeiten und in ca. 90% aller Fälle ausschließlich virtuell mit dem Gegenüber zu kommunizieren, birgt tatsächlich ein großes Potenzial, sich irgendwann zu fühlen wie ein Psycho, der in einem gekachelten Raum Selbstgespräche führt – der in eine scheinbar unglaublich lebendige Welt abdriftet und irgendwann über die Schulter schaut und feststellt: Es ist ja gar keiner da.

Nun gut, alles hat seine Vor- und Nachteile und man muss eben selbst dafür sorgen, dass einem die „realen“ sozialen Kontakte erhalten bleiben und man in Situationen, in denen man plötzlich inmitten einer Menschenmasse steht, nicht anfängt zu nuscheln, weil man verlernt hat zu sprechen.

Kreativer Beruf hin oder her, in meinem Fall ist der Hauptteil meines Tuns im Grunde nichts anderes als banales Zeug ohne große Tiefgänge oder Höhenflüge. Banal nicht im Sinne der Wichtigkeit für meine Auftraggeber oder der Energie, die ich in den Job fließen lasse, aber das Meiste berührt mich eben nicht auf zwischenmenschlicher Ebene und am Herzen, um es mal so auszudrücken. Es sind Buchstaben, Wörter und Sätze, die in sinnvolle Reihenfolgen gebracht werden müssen, hier und da Denkanstrengungen, wenn ich gefordert bin, aus Stichwort A, B und C einen lesbaren Text zu schreiben oder das Rumschnüffeln in geschriebenen Texten, wo der Fehlerteufel zugeschlagen hat.

Dafür bin ich sehr empfänglich und sensibel für bestimmte Themen, in denen ich mich nicht nur mit gefühlslosen Wortspielereien, sondern mit wahren Schicksalen meiner Kundschaft beschäftigen muss.
Nun muss ich gestehen, dass ich in meinem Job schon mit Dutzenden von Autorenbiografien konfrontiert worden bin, oft genug, dass es im ersten Augenblick einen völlig unkontrollierten und automatisierten Reflex in mir auslöst: „Och nö, nich schon wieder!“
Dieser Reflex rührt einfach daher, weil die Mehrheit dieser Autobiografien für die meisten, bis auf den Autor selbst und vielleicht noch die Menschen, die ihn kennen, unbesonders sind.
Was Lieschen Maier im Krieg erlebt hat oder wie Otto Müller seiner Ehe hinterhertrauert, warum Karl Schulz meint, dass alle außer ihm an seiner Arbeitslosigkeit schuld sind oder wieso Hermine I-Tüpfelchen nicht gegen ihre nymphomanische Natur ankommt, welche Verschwörungen Hans im Unglück in den permanenten finanziellen Ruin treiben … das sind Sachen, die … na ja, die sind eben so weit verbreitet und ähnlich mit vielen anderen Erlebnissen anderer Menschen, dass sie ihre Einzigartigkeit für den Außenstehenden verlieren.
Wenn ich so was machen soll, mache ich das, weil es ein Job ist. Aber ich lasse mich davon nicht – wie sagt man? – ausbremsen.

Anders der Fall Jenny Weiß.
„Kein Weg zurück – Leben mit dem Tod im Nacken“ heißt das Buch der Autorin Jenny Weiß, das kürzlich erschienen ist.

Die junge Frau – die eigentlich in meinem Alter ist, aber wie eine Jugendliche daherkommt – kam auf Umwegen über eine Kollegin zu mir und hatte ein begonnenes Manuskript über ihr Leben, mit dem sie hinten und vorne nicht zurecht kam.
Auch wenn ich bei Sätzen wie „… über mein Leben geschrieben …“ erst mal tief durchatmen und einen Schluck Kaffee trinken muss, nehme ich es ernst, denn jedes Leben verdient es, ernst genommen zu werden. Und ich schaue es mir an.
Als ich die ersten Seiten dieses etwas unbeholfen geschriebenen Manuskripts las, haben sich meine Nackenhaare aufgestellt und meine Seele bekam Gänsehaut.
Ich hatte über viele Monate das Vergnügen, Jenny besser kennenzulernen. Und je besser ich sie kennenlernte, umso tiefer schnitt das, was sie erlebt hat und zu erzählen versuchte, in mir ein. Da war neben der Arbeit auch Emotion im Spiel. Ganz oft Wut, nicht selten Mitleid, vor allem aber Ohnmacht. Ohnmacht darüber, dass dieses kleine Leben mit den unzähligen Schrammen und Blessuren kein Einzelfall ist, dass Tag für Tag irgendwo auf der Welt, vielleicht sogar im eigenen Ort, im Haus nebenan, Ähnliches passieren kann und man selbst davon nichts hört, nichts mitbekommt, nichts sieht oder einfach nur zu blind ist, um die Zeichen zu deuten. Wir erinnern uns an den kürzlich aktuellen Fall von Amstetten – unglaublich, dass so was passiert? Nein, ehr wahrscheinlich, dass viel zu viele blind waren.
Noch ohnmächtiger und gleichzeitig wütend kann man werden, wenn ein solch schicksalbehafteter Mensch die Schweigemauer durchbricht und endlich redet – und auf Unglauben stößt. Auf die unzähligen klugscheißerischen Besserwisser, die gleich eine psychologische Diagnose aus dem Nähkästchen zaubern und meinen: Da will sich aber jemand wichtig machen!
Es kann nicht sein, was nicht sein darf, und wer so etwas erzählt, der übertreibt schamlos oder lügt komplett, weil er Aufmerksamkeit sucht.
Okay, ich nehme an, dass all jene, die diese Denke verteidigen, es wissen müssen. Offenbar kennen sie die Erzähler persönlich und können Gegenteiliges belegen oder sie gehören zu jenen, die anderen immer genauso viel zutrauen, wie sie selbst imstande sind zu tun – nämlich sich unglaublich aus der Masse herausheben wollen. Doch ihnen ist dieses Buch nicht gewidmet, denn sie könnten damit nichts anfangen und würden sich selbst und den ehrlich Interessierten lediglich die Zeit mit ihren Zweifeln stehlen.
Doch um was geht’s eigentlich?
In erster Linie geht es um das Verbrechen schlechthin, um das Grausamste, das man einem Kind antun kann: Missbrauch in jeglicher Couleur. Damit beginnt es – distanziert berichtet und aus einer abgestumpften Sachlichkeit heraus. Doch die abgenuckelte, weil ebenfalls missbrauchte und allgegenwärtige Aussage „… schlechte Kindheit gehabt …“, um sich für den Bockmist der Gegenwart zu rechtfertigen, bekommt hier neue Dimensionen.
Nicht nur „Was ist passiert?“ steht im Vordergrund, sondern „Was hat es mit mir gemacht?“ und später „Was habe ich nun daraus gemacht?“
Und was SOWAS mit jemandem machen kann – über Jahre und Jahrzehnte hinweg – erinnert mich an meine frühkindlichen Vorstellungen vom Fegefeuer.
Ein Leben basierend auf einer solchen Vergangenheit leben zu müssen, ist eine permanente Herausforderung an sich selbst, seine Umwelt und ein Hadern mit Gott, Geist und Gerechtigkeit.
Mich hat dieses Buch sehr erschüttert und betroffen gemacht. Gleichzeitig Demut gelehrt ob der eigenen mehr oder weniger unwichtigen Probleme, über die man schon mal gerne zusammenbrechen möchte. Und viel schlimmer als der Inhalt des Buchs ist eigentlich das Wissen, dass es kein Einzelschicksal ist, nur eine schweigenbrechende Ausnahme.
Es hat mich gelehrt, meinen Mitmenschen aufmerksamer zu begegnen, sie genauer zu betrachten und konzentrierter hinzuhören.
Das Grauenhafte lebt mit uns und nebenan, oft auch in uns drinnen, nicht am anderen Ende der Welt. Wieder einmal ist mir klar geworden, dass alle Anteilnahme und Empörung über die Ungerechtigkeiten dieser Welt nichts anderes ist als Heuchelei, solange ich die Augen vor dem verschließe, was sich direkt vor meiner Nase abspielt. Ähnlich wieder arrogante Stein, der in den See fällt und sich einbildet, seinen Wellenschlag vom Ufer aus beginnen zu können.















© Sabine Dreyer

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User Diskussion
manati
Geschrieben am: 29.05.2008 14:03  Aktualisiert: 30.05.2008 22:16
User seit: 01.10.2006
aus: dem Ländle
Beiträge: 4705
 Re: Sabine Dreyer- Kein Weg zurück
Genau das ist es, was mich wütend macht, daß das Grauen oft nebenan lebt, es viele aber in ihrem "Schubladendenken" nicht bemerken (wollen).
Wie sieht ein Mörder, Betrüger, Kindesmisshandler aus? Siehe dieser Tage der Lehrer (oder was auch immer), der in Thailand festgenommen wurde.
Oder wenn tagtäglich aus dem Haus eines Arztes/Rechtsanwaltes/sonstiger honorigen Person Schreie ertönen - entweder ist´s ein Schreikind oder die Frau tickt net richtig.
Dasselbe trifft auf sogenannte Biedermänner zu (wie Fritzl), die machen einen ordentlichen Eindruck, sind aber hochgradig gestört und/oder kriminell - tun "sowas" doch sicher nicht
Am allermeisten stört mich jedoch, daß die Opfer meist nicht gerecht behandelt werden. Da müssen selbst sehr junge, missbrauchte Mädchen sich als Schlampe bezeichnen lassen,
bedrohte Frauen werden ausgelacht und später umgebracht (Ehrenmorde), geschlagene Kinder, jahrelang gequälte Ehefrauen bekommen Höchststrafe, wenn sie sich wehren, da sie weder betrunken noch im Affekt (wie die Peiniger) gehandelt haben. Hatten sie eine andere Möglichkeit?
Und kein Mensch fragt danach, wie sie mit den grausamen körperlichen und seelischen Folgen zurechtkommen.
ghic
Geschrieben am: 29.05.2008 12:03  Aktualisiert: 30.05.2008 17:10
User seit: 18.01.2008
aus: Braunschweig
Beiträge: 124
 Re: Sabine Dreyer- Kein Weg zurück
"Wer wäre ich geworden, wäre es mir nicht passiert?"
In Vinterbergs "Das Fest" lautet der letzte Satz:
"...und es hört nie auf!"

Das stimmt.



 

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