Kindheit und die Rolle des Kindes haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gravierend verändert. Aus ,,kleinen Erwachsenen“, die sich unterzuordnen hatten, wurden in den späten 60-er Jahren die heimlichen ,,Chefs“ der Familie. Heute gibt es unzählige Erziehungsexperten und –ratgeber und unterschiedliche Wege, Kinder zu begleiten – und daher viele verunsicherte Eltern und Großeltern. Die fünfteilige Serie ,,Erziehung früher – Erziehung heute“ zeigt fünf typische Streitpunkte zwischen jungen Eltern und Großeltern, hinterfragt sie und zeigt: wenn Jung und Alt an einem Strang ziehen, kann das den Kindern von heute nur zugute kommen.
Schreien und Trotzen – normal, aber fast unerträglich
Oma: ,,Der schreit, weil er Hunger hat. Gibt ihm endlich ein Fläschchen.“ – Mama: ,,Nein, auch der Kinderarzt sagt: meine Muttermilch reicht ihm! Aber was fehlt ihm dann?“ Nachbarin: ,,Der ist nur verwöhnt! Lassen Sie ihn doch brüllen, das kräftigt die Lungen!“ Tochter der Nachbarin: ,,Meine Tochter schlief durch, seit ich aus der Klinik bin! Aber seit sie zwei ist, trotzt sie wie der Teufel. Was mache ich jetzt nur falsch?“
Für beide Mütter passt dieselbe Antwort: keine macht etwas falsch. Denn Schreien unruhiger Babys und Trotzen von Kleinkindern sind kein Zeichen von schlechter Erziehung. Beide sind, wie Psychologen und Mediziner seit Jahrzehnten betonen, etwas ganz Normales. Doch leistungsorientierte junge Leute finden sie ebenso schwer auszuhalten wie jene Älteren, die selbst lernten, dass laute Kinder einen schlechten Charakter hätten.
Das Empfinden kleiner Kinder wird immer bekannter
In rasantem Tempo finden Psychologen und Ärzte Neues über das Seelenleben kleiner Kinder heraus. Daher weiß man, dass Neugeborene ohne Kalkül schreien -- ,,wenn man ihnen das Schreien verbietet, ist das, wie wenn man Erwachsenen das Sprechen verbietet“, betont die Heilpraktikerin Heidi Schneider aus Senden. Sie betreibt zusammen mit der Homöopathin und Familientherapeutin Kerstin Zangl-Mittelmeier eine Schreiambulanz für Eltern unruhiger Babys. ,,Jedes fünfte Baby weint besonders viel und ausdauernd“, informieren sie. Solche Säuglinge sind auch nach dem Trinken, im ausgeschlafenen Zustand und ohne Schmerzen kaum zu beruhigen. Viele weinen vor allem abends, wachen nachts mehrmals auf. Mediziner definieren ein typisches ,,Schreibaby“ als ein Neugeborenes, das mehr als drei Wochen am Stück mehr als drei Tage pro Woche je mehr als drei Stunden lang schreit.
Nun sind unruhige Babys nichts Neues. Viele Großmütter berichten von lauten Säuglingen, die teilweise in Honig getränkte Tücher zum Nuckeln bekamen – heute fürchtet man da zu Recht Karies, Allergien und Infektionen. Auch der Spruch ,,Schreien kräftigt die Lunge“ ist falsch, warnen Ärzte. Richtig dagegen: Müssen Säuglinge alleine vor sich hin weinen, nehmen viele seelisch Schaden. Ein Neugeborenes hat noch keinen Zeitbegriff und fühlt sich in Lebensgefahr, wenn auf sein Schreien niemand reagiert.
Warum Schreien und Trotz Erwachsene herausfordern
Heidi Schneider und Kerstin Zangl-Mittelmeier definieren Schreikinder als besonders sensible Babys, die Eindrücke aus Schwangerschaft und Geburtsphase verarbeiten. Viele Mütter von Schreikindern hatten eine belastete Schwangerschaft, brachten ihr Kind sehr schnell oder sehr schwer zur Welt. Zur mütterlichen Erschöpfung kommt der Eindruck, das Kind nicht zufrieden stellen zu können. Überforderte Eltern, fordernde Kinder – diese Kombination ist dann wirklich ,,zum Schreien“!
Aggressionen kochen aber auch in Familien hoch, in denen sich der Nachwuchs erst mal ganz sanft verhielt. Irgendwann zwischen dem ersten und zweiten Geburtstag beginnen nämlich die berühmt-berüchtigen Trotzphasen. Plötzlich wirkt fast jedes Kind launisch: Manche werfen mit Essen um sich oder sich selbst auf den Boden. Andere stellen sich taub gegenüber elterlichen Anweisungen, laufen buchstäblich gegen die Wand. Sozialarbeiterin und Familientherapeutin Monika Fischer-Koch von der Psychologischen und sozialen Beratungsstelle Katharinenstraße der Caritas in Stuttgart* definiert Trotz so: ,,Da begreift das Kind, dass es wollen kann, nicht nur sollen muss. Sein Wunsch nach Unabhängigkeit kann so weit gehen, dass es ,,nein“ zu etwas sagt, was es eigentlich möchte“. Trotz tut dem Kind also weh, ist aber gesund und völlig normal. Hilfe von Ärzten oder Psychologen brauchen nur Kinder, die sich selbst in ihrer Wut in Gefahr bringen. Meistens aber passt der Rat: ,,Warten Sie ab, behalten Sie das Kind im Auge, bis der Anfall vorüber ist“ von Kerstin Zangl-Mittelmeier. Dass Fremde sich nicht einmischen sollten, wenn ein Kind in einem Supermarkt trotzt und die Mutter scheinbar unbeteiligt danebensteht, versteht sich von selbst.
,,Werden aus schreienden Babys und trotzenden Kleinkindern nicht verzogene Tyrannen?“ Wenn ältere Menschen so fragen, haben sie oft Sprüche aus der eigenen Kindheit im Ohr. Aus Zeiten, in denen Adolf Hitler nahe stehende Erziehungsberater Kindererziehung als Kampf definierten. Die Bestsellerautorin Johanna Haarer etwa rief jede Mutter eines schreienden Babys zur Härte auf: ,,Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen“, riet sie in ihrem Ratgeber ,,Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von 1934. Solche Sätze muss man im Kontext einer Zeit verstehen, in der Kinder dazu erzogen wurden, für einen Diktator in den Krieg zu ziehen. Heute sagen Experten: Verzogene Tyrannen entstehen nicht, wenn ein weinendes Baby getröstet, ein trotzendes Kind ruhig beobachtet wird. Wohl aber dann, wenn Erziehende alles tun, um ihrem Nachwuchs alles recht zu machen.
Schrei- und Trotzkindeltern brauchen Verständnis und Hilfe
Wenn ein Baby seine Eltern um den Schlaf bringt, sind die Nerven angespannt. Daran sollte denken, wer helfen möchte. Die ersten drei Monate sind bei Schreibabys oft die schwierigste Zeit. Wer sich in jener Zeit mit Ratschlägen zurückhält, stattdessen Haushalt oder Einkauf übernimmt, trägt zu mehr Gelassenheit der Eltern und damit des Kindes bei.
Und die Trotzanfälle? Auf sie könnten Großeltern junge Eltern ja umfassend vorbereiten. Schon die poetischen Worte des Psychotherapeuten Reinhold Ruthe, ,,Der Trotz gehört zum Kleinkindalter wie der Wind zum Meer“, klingen tröstend. Tipps wie ,,wirf dich einfach neben dein Trotzkind und verblüffe es“ oder ,,denk an deine Uroma, die damals den bockigen Opa an der Hose packte und an einem Haken zappeln ließ“ vermitteln: alles nicht so schlimm, diese Phase schaffen wir gemeinsam.
*Erziehungsberatung bieten viele diözesane und städtische Stellen kostenlos an. In Stuttgart z.B.
Psychologische und soziale Beratungsstelle Katharinenstraße für Eltern, Kinder und Jugendliche bei der Caritas, Katharinenstr. 2B, Stuttgart-Heusteigviertel, Tel. 0711-24892920, beratung@caritas-stuttgart.de
Psychologische Beratungsstelle der Evangelischen Kirche Stuttgart, Augustenstr. 39B, 70178 Stuttgart-Feuersee, Tel. 0711-669590, info@beratungsstelle-stuttgart.de
**Buchtipps zum Umgang mit schreienden und trotzenden Kindern:
Dr. William Sears: Das ,,24-Stunden-Baby“. Kinder mit starken Bedürfnissen verstehen. La Leche Liga 1998, EUR 13,90
Jan-Uwe Rogge: ,,Der große Erziehungsberater“ -- ,,Kinder brauchen Grenzen“ -- ,,Eltern setzen Grenzen“ -- ,,Wenn Kinder trotzen“. Alle Rowohlt.
Reinhold Ruthe: ,,Konsequenz in der Erziehung“. ERF Verlag 2007, EUR 10,95
© Petra Plaum
User | Diskussion |
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Gast | Geschrieben am: 24.08.2008 10:50 Aktualisiert: 24.08.2008 11:50 |
![]() Da ich mich aus "aktuellem Anlaß" = Enkelchen seit 20 Monaten - wieder mal mit Erziehung beschäftige und mich auch in entsprechenden Foren rumtreibe
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lunka | Geschrieben am: 22.08.2008 22:17 Aktualisiert: 24.08.2008 11:48 |
![]() ![]() User seit: 19.07.2007 aus: Beiträge: 1222 |
![]() du hast bereits einige Buchtipps aufgeschrieben,
ich wollte noch ein Buch dazu aufschreiben: von Carlos González "In Liebe wachsen". Ein super Buch, wie ich finde. |