Es ist vollbracht. Endlich. Der letzte, nach altem Schweiß und O-Saft-Korn stinkende Neandertaler hat die Tür hinter sich zu gemacht, von außen. Ich bin alleine. Endlich.
Was für ein Tag, was für ein Umzug. Gnade Gott demjenigen, der mir das in den nächsten 20 Jahren noch ein einziges Mal zumutet.
Erschöpft, aber nicht unglücklich, laufe ich durch Kartonparcours und praktiziere gut gelauntes Möbelkanten-Ausweichen – eine Disziplin, in der ich mich in den letzten Wochen olympiareif verbessert habe.
Das Schlimmste ist überstanden. Nervensäge Paul wird ab heute wieder störfrei schnarchen können, und ich ebenso. Wer war gleich noch mal Paul? Ach so, der Typ, mit dem ich zwei Jahre zwei Zimmer teilen musste, der sich maximal einmal pro Woche dem fließenden Wasser näherte – vermutlich aus Angst, es könnte ihn auflösen – und der mich täglich fragte: Liebst du mich?
An die vielen Antworten, die ich auf diese Frage, gegeben habe, kann ich mich kaum noch erinnern. Vermutlich hab ich ihn meist in Diskussionen über Umweltverschmutzung und Regenwurmsterben verwickelt. Das kann ich gut. Nur die letzte Antwort, die ich auf ein einfaches Nein beschränkte, höre ich noch klar und deutlich von meinen Lippen zischen.
Sicher, im ersten Augenblick war es overshocking und ich verbot mir für weitere Auskünfte selbst den Mund. Einige Minuten lang. Bis ich dann sagte: „Ich ziehe aus.“
Zwei Jahre sind viel Zeug, wenn man bedenkt, wie viel Päckchen Zigaretten man in der Zeit rauchen kann oder wie oft Vom Winde verweht wiederholt wird.
Andererseits hat Paul meinen 30ten Geburtstag bezahlt, zwei Raten für meinen Elefantenrollschuh aus der A-Klasse und eine Woche Ballermann. So gesehen waren die zwei Jahre doch nicht ganz sinnlos.
Aber egal, so spricht Vergangenheit. Und jetzt ist Zukunft angesagt. Schnarch-los, Paul-los und vermutlich hier und dort auch Geld-los.
Aber was nimmt man nicht alles in Kauf, um wieder frei zu sein und Ordnung in sein Leben zu bringen.
Gut gelaunt laufe ich meine aktuellen 60 Quadratmeter ab. Viel sieht man nicht davon, noch regiert das Chaos. Aber ich bin guter Dinge, es bald in den Griff zu bekommen. Glücklicherweise haben die Möbelpacker die Couch schon dahin gestellt, wo sie stehen soll. Also nichts wie drauf und Füße hoch.
Jetzt würde ich liebend gerne ein bisschen fernsehen, aber wenn mich recht erinnere, hat einer von diesen dickbäuchigen Muskelmännern im unattraktiven Ripphemd unter dem Blaumann den 62er Phillips ins Schlafzimmer getragen. Oder in die Küche? Jedenfalls stand er in einem anderen Raum als die Sat-Schüssel.
Okay, also nicht fernsehen. Wie ärgerlich. Paul hätte den Fernseher binnen 5 Minuten zum laufen gebracht, denke ich überflüssigerweise.
Nach einem Gedankensprung fällt mir ein, dass heute Samstag ist. Und schon Ladenschluss. Noch ärgerlicher. Wo finde ich denn jetzt jemanden, der sich um meine chronischen Medienbedürfnisse kümmert? Ob ich nette Nachbarn habe?
Vielleicht sollte ich das mit dem Füße hochlegen doch auf später verschieben und lieber anfangen, Ordnung ins das Chaos zu bringen, aber wo anfangen?
Am besten setze ich mich erst mal hin und mache einen Plan. Morgen ist Sonntag. Was brauche ich also?
Da wäre zuallererst mal die Kaffeemaschine samt Kaffee und Milch. Milch, Scheiße. Keine da. Ob Paul noch ...?
Nein, das werde ich nicht tun. Nie im Leben. Wäre ja noch schöner.
Also gut, dann eben kein Kaffee. Aber wenigstens Wasser. Irgendwo stand noch eine Sprudelflasche rum. Wo war das bloß? Auf der Fensterbank ... wo?
Egal, nur Not habe ich fließendes Wasser in Küche und Bad. Gut, Zahnbürste, Anti-Aging-Creme, Duschbad, Epilierer, Bürste, Deo ... was noch? Kajal, ganz wichtig. Ohne Kajal keine Nachbarschaftsbesuche. Und Lagerfeld. Woman natürlich. Von Paul geschenkt, aber das Parfüm kann nichts dafür. Jetzt muss ich suchen, in welcher Kiste die Sachen sind.
Beim Blick durch die Wohnung steigt Übelkeit in mir auf. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Kisten zu beschriften. Auf einer hab ich es geschafft. Wohnzimmer, Schrankwand, rechte Tür, oberer Regalboden.
Prima, ich muss mir selbst auf die Schulter klopfen. Das war die Kiste mit dem Zeug für den Sperrmüll. Die anderen Kisten staunen mich erwartungsvoll an und bitten darum, vom Klebeband befreit zu werden. Ich zögere noch. Was, wenn ich die falsche Kiste öffne und mir statt Zahnbürste und Co. die Aussteuer von Oma entgegenkommt, die mir seit meiner Konfirmation ein treuer Wegbegleiter ist? Oder die Bücher, die ich immer lesen wollte und von denen ich nicht mal mehr weiß, wie sie heißen?
Am besten, ich ignoriere die Kisten einfach. Vielleicht fange ich damit an, die Möbel an die richtigen Wände zu rücken. Das hätte neben dem ungewohnten Platz in der Wohnungsmitte noch den Vorteil, dass ich einfach irgendeine Kiste öffnen und den Inhalt direkt in den passenden Schrank räumen könnte.
Aber muss ich mir das heute noch antun? Heute Abend? Eigentlich reicht es. Zum Einpacken hab ich auch Wochen gebraucht, wieso also jetzt alles überstürzen?
Am besten geh ich doch auf die Suche nach der Sprudelflasche. So ein Umzug macht durstig. Dieses ständige Aufpassen auf die Möbelschlepper. Und zwischendurch die Anrufe auf dem Handy. Woran sollte ich noch denken, hat Simone gesagt? Irgendwas mit den Klamotten … Scheiße, meine Klamotten. Der prozentual größte Anteil meiner Besitztümer. Edel, teuer und nicht bügelfrei. Oh weih.
Ziemlich planlos, aber immer noch geschickt im Hindernis-Ausweichen, mache ich mich auf die Suche. Im Schlafzimmer werde ich fündig. Nur wenige Meter von der Tür entfernt auf der Fensterbank sehe ich das Objekt meiner Begierde stehen. Wenige Meter, die plötzlich wie Lichtjahre sind, denn zwischen der Flasche und mir stehen unüberwindliche Hürden aus Bett in Einzelteilen, Kartons, Möbel, Kommoden und Säcken.
Blitzschnell peile ich die Lage im Raum. Mit etwas Anstrengung könnte ich es noch bis zum Bett schaffen. Wenigstens liegt die Matratze schon halb drauf. Aber der Fernseher auch, wie ich sehe. Und wenn ich mich an die angestrengten Gesichter der Möbelmänner erinnere, muss ich annehmen, dass er schwer ist. Die Chance, es bis zur Fensterbank zu schaffen, scheint verschwindend gering.
Es ist wohl besser, die Schlafzimmertür wieder zu schließen. Vorerst.
Meine nächste Inspektion gilt der Küche. Hier sieht es nur wenig besser aus. Allerdings hat sie den Vorteil, dass die Küche selbst nebst sämtlichen Elektrogeräten schon steht. Der Vormieter war so nett und hat sie mir günstig verkauft, weil Paul nicht so nett war und darauf bestand, dass seine Küche in seiner Wohnung bleibt und sich nicht mit dem Auszug der Exfreundin zur Exküche verwandelt.
Es ist zu verstehen. Die Küche hat eindeutig die älteren Rechte. Allerdings ändert das nichts an der eigentlichen Situation, die ob des übermäßigen Kistenaufbaus nicht viel angenehmer ist als im Schlafzimmer.
Mir drängt sich die Frage auf, ob die Inhalte all dieser Kisten tatsächlich die gleichen sind, die einst in Pauls Wohnung Schränke und Flure verstopften. Ob es möglich ist, dass die Möbelpacker versehentlich einen zweiten Umzug hier abgeladen haben?
Ganz vorsichtig hebe ich die lose Abdeckung einer der Kisten an und schiele hinein. Meine Hoffnung auf unerwarteten Reichtum wird jäh zerstört, als ich mein Diorkleid erkenne, das kläglich zerknittert obenauf liegt. Schnell wieder den Deckel zu und am nicht mehr öffnen, ehe ich weiß, wo das Bügeleisen ist.
Leicht gereizt sehe ich an mir herunter. Vielleicht war das Kostüm von Chanel doch keine gute Idee für den Umzug. Vielleicht hätte ich lieber Jeans und ein T-Shirt anziehen sollen, denn diese Sachen kann man mit viel gutem Willen auch zwei Tage tragen.
Langsam schwindet meine gute Laune über die neu gewonnene Freiheit. Vielleicht hätte ich den Möbelpackern doch ein Scheinchen geben und sie bitten sollen, wenigstens die Schränke in die richtigen Räume zu stellen. Beim Gedanken daran, wie ich die Glasvitrine vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer befördern soll, wird mir schwindlig.
Sie hatten es ja angeboten. Wieso war ich eigentlich nicht sicher, ob die Waschmaschine nun ins Bad oder ins Wohnzimmer sollte? Diese Banausen. Sie könnten einer Frau ruhig ein paar Minuten Bedenkzeit geben. Man kann eben nicht alles spontan entscheiden. Diesen Fehler hab ich einmal gemacht, bei Paul. Und das Ende vom Lied ... ich wiederhole mich ungern.
So, was nun? Telefon. Gute Idee. Ein paar Anrufe und schon kommt Licht ins Dunkle. Apropos Dunkelheit. Der Samstag ist schon ein Samstagabend ist und ich denke angestrengt nach, wen ich anrufen könnte. Simone wollte gegen sieben mit ihrem neuen Lover zum Italiener. Fällt also aus. Karsten und Milla haben Kinder und sind seitdem außerhalb jeglicher Nächstenliebe eingespannt. Jochen ist schwul und kann kochen und Kajal auftragen; Möbelrücken fällt weniger in sein Repertoire. Und Rita, Birgit und Peggy werden vermutlich gerade in diesem Moment Prosecco trinken und Weintrauben darin ersäufen, ehe sie auf die Piste gehen, um ihrem elendigen Single-Dasein ein vorläufiges Ende zu setzten. Bis Sonntagabend jedenfalls.
Meine Stimmung nähert sich unaufhaltsam einer Depression. Hier stehe ich nun, als freier Mensch, in einer Wohnung voller Kisten, mit unerreichbaren Wasserflaschen auf Fensterbänken, auf denen vermutlich bald die Vögel nisten, wenn keine Hilfe kommt, mit einer Hand voll wirklich netter Freunde, die jede Menge eigene Sorgen haben und diese auch richtig gut pflegen.
Und wer kümmert sich jetzt um meine Sorgen? Ich trete mit hängendem Kopf den Rückzug ins Wohnzimmer an. Vielleicht tröstet mich die Couch. Kein Fernseher und niemand in Sicht, der diesem Leben einhaucht. Kaffee kochen ist nicht, ich hasse schwarzen Kaffee. Ebenso gut könnte ich die Milchstraße zum Ziel haben. Sprudel gleichzeitig im Nachbaruniversum verschwunden und mein Outfit sieht aus wie Freddy Krüger nach dem Auseinanderfalten. Ich weiß nicht mal, womit ich mir morgen Früh die Zähne putzen soll, wenn ich die Klobürste als Alternative außer Acht lasse. Das Leben ist ein schlechter Scherz. Ich hoffe, ich kann irgendwann darüber lachen.
Auf der Lehne des Sofas liegt mein Handy, und während mein Kopf noch überlegen will, ist die Hand schon unterwegs.
„Paul?“ flöte ich ins Telefon und zwinge mir ein Lächeln auf die angespannten Gesichtsmuskeln, „du, Schatz, es tut mir leid. Meinst du, wir beide könnten es noch einmal versuchen?“
© SabineD
Wort-Taten
User | Diskussion |
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Gast | Geschrieben am: 21.05.2007 17:16 Aktualisiert: 21.05.2007 20:36 |
![]() Hö hö, ich dachte eigentlich, man könnte schon am Titel sehen, wo das Elend hinführt
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MarieTheres | Geschrieben am: 21.05.2007 16:52 Aktualisiert: 21.05.2007 16:52 |
Webmaster ![]() ![]() User seit: 03.10.2005 aus: Bayern - Teneriffa Beiträge: 1399 |
![]() Typisch Frau! Ich mag Deine witzigen Bilder und Deine frechen Wortschöpfungen. Kurz: ich lese Dich einfach gern.
Gruß M.Th. |
minke52 | Geschrieben am: 19.05.2007 12:17 Aktualisiert: 19.05.2007 12:19 |
![]() ![]() User seit: 15.01.2006 aus: Sachsen Beiträge: 2105 |
![]() Oooooch neeeeeee, sie schreit nach Paul, ich bin enttäuscht! Dabei hatte ich Deine Protagonistin so bewundert, schon wegen ihres Humors und auch so, denn ich mag Frauen, die sich durchbeißen und den Mut für einen Neuanfang aufbringen. Und dann, wenns eng wird und ein paar Schwierigkeiten auftauchen, mutieren sie zum hilflosen Weibchen, da hätte ich mir nun wirkllich ein anderes Ende gewünscht. Oder ist ihr plötzlich bewußt geworden, dass die Paul doch noch liebt. Weshalb gerade in diesem Chaos? Wo ist ihr Stolz?
Nun bin ich sauer. Aber gut geschrieben ist Deine Geschichte, ein ganz eigener Stil, der viel vom Können verrät. Ich warte auf mehr - vielen Dank! LG minke ![]() ![]() |
Gast | Geschrieben am: 19.05.2007 08:18 Aktualisiert: 19.05.2007 12:19 |
![]() Ich möchte bitteschön betonen, dass diese Geschichte frei erfunden ist und weder an lebende Personen noch Gegebenheiten knüpft
![]() Dankeschön ![]() |
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Gast | Geschrieben am: 19.05.2007 01:03 Aktualisiert: 19.05.2007 12:19 |
![]() Der arme Paul, ich hätte ihm geraten nicht ans Telefon zu gehen
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Blackforest | Geschrieben am: 18.05.2007 17:24 Aktualisiert: 18.05.2007 23:07 |
![]() ![]() User seit: 23.10.2005 aus: Beiträge: 1927 |
![]() Eigentlich wollte ich nichts schreiben, da ich nicht zu jeder Geschichte einen Kommentar oder Senf abgeben möchte, aber diese Geschichte ist so gut, dass ich nicht mehr anders konnte.
Vielleicht melden sich noch andere mutiger Leser, die einen Kommentar abgeben. Der Bühnenstar lebt und freut sich über einen starken höllischen Beifall, von Leuten die vor lauter Freunde auf die Stühle steigen. Grüße Wolfgang End |
Erika | Geschrieben am: 18.05.2007 17:21 Aktualisiert: 18.05.2007 22:26 |
![]() ![]() User seit: 03.02.2006 aus: Beiträge: 12428 |
![]() Mein erster Gedanke?
"Oh nee, Sabine, tu das nicht!!!!" Rasant geschrieben und die Situationen kommen mir bekannt vor... Klasse, Sabine, wie immer! Liebe Grüße, Erika |