Meine Kindheit war eigentlich von Armut geprägt, das ist mir erst Jahre später aufgefallen. Wir hatten aber immer zu essen...
Ich bin im Januar 1947 geboren, habe also die 50er Jahre mit all dem Mangel und dem Wiedererstarken der Wirtschaft mitgekriegt.
Wir kamen 1947 nach Essen, mein Vater hatte sein Elternhaus überschrieben bekommen. Was heißt Elternhaus... Es war ein Riesenhaufen Schutt mit einem kleinen intakten Kellerraum, darin hausten meine Eltern mit dem kleinen Baby ab November 1947. Es dauerte Jahre, bis das Haus wieder einen ersten Stock hatte... Inzwischen kam Elke auf die Welt, seltsamerweise erinnere ich mich genau an die Situation, als mir eine wildfremde Frau ein Baby hinhielt und sagte: „Das ist deine kleine Schwester!“ Ich war 4 ½ Jahre alt.
Mein Vater war Maurer, hatte also viel Arbeit, nebenbei wurde das eigene Haus aufgebaut, was natürlich eine Menge Geld verschlang, obwohl meine Großeltern einen ganzen Eisenbahnwaggon mit Baumaterialien aus Bayern schickten. Deshalb gab es oft Marmeladenbrote. Spielzeug hatten wir so gut wie gar keines, aber niemand hatte Spielzeug. Ein Junge hatte ein altes Fahrrad, das war das Höchste – es gab aber keinen Neid. Wer etwas Neues zum Anziehen bekam, wurde glühend bewundert. Ein neuer Bleistift ließ uns stolz wie Oskar in die Schule gehen. Wir mussten klein schreiben, damit die Hefte länger hielten und statt Blocks gab es gebrauchtes Butterbrotpapier, das eignete sich genauso gut zum Notizenschreiben oder schriftliches Rechnen. Manchmal bekamen wir auch neue Schuhe, das war ein Festtag und wehe, jemand sprach uns nicht auf die neuen Schuhe an – die von Deichmann... Die guten!
Ich war 10 Jahre alt, als ich das erste Mal eine ganze Tafel Schokolade bekam, ganz für mich allein – meine Großeltern brachten sie mit, das werde ich nicht vergessen. Schokolade mit ganzen Nüssen drin, die hatte ich noch nie gesehen. Ich war selig!
Und das ist es: Womit kann man die „heutigen“ Kinder noch begeistern? Wo würde ein Kind sagen: Ich bin selig! Die Kinder haben alles. Meine Enkel haben keine Wünsche mehr, weil sie alles haben und alles bekommen. Sind sie glücklicher? Bestimmt nicht! Ich besaß 4 alte Tennisbälle, damit habe ich an einer hohen Wand gespielt, kennt Ihr das noch?
Wir waren so anspruchslos, weil alle anspruchslos waren. Keiner besaß etwas, aber wir haben zusammengehalten. Die ganze Nachbarschaft hatte Kinder, es war ein Trupp von 12 bis 15 Kindern, da war es tatsächlich so, dass wir den ganzen Tag unterwegs waren. Mit Elke, Dieter und Ingrid, Gisela, Karin und Roswitha und wie sie alle hießen. In der Nachbarschaft lebten auch drei ältere Damen, die hatten oft eine Nichte zu Besuch, die hieß Rosemarie. Leider konnte diese Rosemarie das „R“ nicht aussprechen, wir fragten sie oft zehn Mal am Tag nach ihrem Namen: „Hosemahie!“ Auch damals konnten Kinder grausam sein...
In den Ferien nahmen wir morgens ein paar Margarinebrote mit, eine Flasche mit Leitungswasser, das reichte und wir waren den ganzen Tag unterwegs. Jeder achtete aber genau auf die Laternen, denn wenn die angingen, mussten wir schnellstens heim.
1960 gab es den ersten Fernseher, da war nachmittags von 5 bis halb 6 Kinderstunde...
Ich möchte meine Kindheit immer wieder erleben, ohne Fernseher, ohne Handy, ohne Internet, ohne Auto, ohne Plastik (das gab es sehr, sehr selten!), ohne McDonalds und ohne 12 Meter Süßigkeiten-Regalen. Unser Vater hatte uns Bauklötze gemacht, einfache Holzstückchen, ordentlich abgeschmirgelt und als Allergrößtes gab es Weihnachten 1956 einen wunderbaren von Vati gebauten Kaufladen. Sogar mit verschiebbaren Glasscheiben vor den Regalen, mit Schütten für Zucker, Mehl, Reis und Nudeln. Vor Weihnachten verschwand der Kaufladen regelmäßig und wurde frisch gestrichen und aufgefüllt an Weihnachten wieder mit Leidenschaft „bespielt“.
Und heute? Die Eltern fangen im Herbst an zu sparen, damit sie den Kindern wenigstens ein paar ihrer vielfältigen Wünsche erfüllen können. Der ganze technische Kram, was soll das? Die Krönung der Dekadenz ist m.E. ein Mobile über dem Babybettchen – mit Fernbedienung!!! Ich hatte diese Wackeldinger selbst gebastelt mit ausgeschnittenen und beklebten Figuren aus Filz, mit bunten Perlen an den Schnüren.
Wir hatten es leichter damals. Heute möchte ich kein Kind sein, ganz ehrlich nicht. Die Beschränkungen, die Vielfalt an Allem, die Konsumverpflichtung... Wir kannten keine Langeweile, weil wir noch spielen konnten und sei es, in den (nicht asphaltierten) Gehweg mit Muttis Suppenlöffel ein Loch zu buddeln und da mit Murmeln zu spielen...
Vor ein paar Jahren waren meine Schwester und ich noch einmal in der Straße, in der wir groß wurden – man kann keine Murmellöcher mehr buddeln, man kann kein Völkerball mehr spielen, weil rechts und links alles mit Autos zugeparkt ist.
Hoch lebe der Fortschritt, zahlen müssen die „heutigen“ Kinder...
© Erika Weder
User | Diskussion |
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Gast | Geschrieben am: 15.03.2008 17:37 Aktualisiert: 15.03.2008 21:48 |
![]() Den Fortschritt zu verdammen, find ich nicht richtig. Schließlich profitieren wir "Alten" auch davon. Die heutige Zeit ist weder schlechter noch besser, sie ist einfach anders; wie auch unsere Kindheit "anders" war als die unsrer Großeltern.
Wir bekamen unsren ersten Fernseher erst 1964 ![]() |
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lunka | Geschrieben am: 14.03.2008 23:46 Aktualisiert: 15.03.2008 21:46 |
![]() ![]() User seit: 19.07.2007 aus: Beiträge: 1222 |
![]() Erika,
was heutige Kinder angeht, sprichst du mir aus der Seele. Obwohl die viel haben, sind die nicht glücklicher. Die können aber auch nichts dafür, für diese Zeit, für ewige Werbebotschaften, Plastikschnick-schnak etc., begrenzte Spielflächen und -zeiten, Stress, Eltern haben wenig Zeit usw. Aber auch sie werden sich an ihre Kindheit mit Freude erinnern (hoffe ich). Bin selber in einem Dorf aufgewachsen, wir waren von morgens früh bis spät abends immer draußen. Würde gerne meinen Kindern auch diese Art von Kind-Sein bieten, geht hier leider nicht mehr in der heutigen Zeit. |
Subura | Geschrieben am: 11.03.2008 22:34 Aktualisiert: 11.03.2008 22:37 |
![]() ![]() User seit: 27.02.2007 aus: Niederrhein Beiträge: 7887 |
![]() Vor allem gabs damals auch kaum übergewichtige Kinder, denn wir waren dauernd mit Gummitwist- oder Seilchenspringen beschäftigt, wenn wir nicht schlicht Fangen oder Verstecken spielten und durch die Gegend jagten.
Wir ließen uns kaum mal berieseln, sondern waren gezwungen, kreativ zu sein, und ich glaube, wir interessierten uns auch mehr für die täglichen Dinge des Lebens wie z.B. Handwerkliches, weil es einfach nicht so viel Ablenkung von der Realität gab. Schön beschrieben, Erika! Es war wirklich nicht alles schlechter früher. ![]() LG Subura |