"Hallo Julia, Du bist aber schnell wieder aufgetaucht. Schon umgezogen? *grins"....
Julia? Wieso Julia, ich bin doch Christin, dachte ich, als ich die Mail las, die mir eine angeblich wohlwollende Mitsinglerin hier bei der single.plattform schickte, eine Stunde nach dem ich mein Profil auf dieser Plattform eröffnet hatte.
Neugierde hatte mich hierher getrieben, so wie wohl viele andere Mitglieder auch. Ehrlich gesagt, ich suche nicht unbedingt nach einem Mann, schon gar nicht nach einer Beziehung. Neugierde war’s, und der Reiz, hier auf neue Menschen treffen zu können und mich mit ihnen auszutauschen. Und was sonst noch an Begegnungen dabei sein könnte, würde ich einfach auf mich zukommen lassen.
Blitzschnell eintreffende Nachrichten mit eindeutigen F.-Angeboten, schwülstigen Liebesschwüren, Versprechen ewiger Treue und Fotos entblößter "Glied"-maßen, ließen meinen Messenger innerhalb kürzester Zeit fast bersten. Und zwischen all diesen Angeboten war die "Mail an Julia".
Auf meine freundliche Antwort an die Absenderin, ich sei nicht Julia und hätte auch nicht vor umzuziehen und sie müsste sich wohl im Profil geirrt haben, kam als Antwort "Sorry, dann hab ich Dich wohl mit jemanden verwechselt."
Das Ganze vergaß ich schnell, doch einige Tage später kam, von einem andern User, folgende Nachricht:
"Hey Chrissie, auch mal wieder da, und wieder ein neues Profil dazu. Hast du vor eine Fake-Kollektion zu eröffnen? Reicht es dir denn nie?! Ich hoffe, du verfolgst mich nicht!"
Chrissie? So hatte mich nur meine kleine Schwester genannt und nun tat das diese, für mich fremde Person? Kannte die mich so gut? Oder kannte sie meine Schwester?
Nein, die lebt glücklich verheiratet und als genervte Mutter im Ruhrgebiet und hätte für diese Single-Community nicht den Nerv.
Wieder schrieb ich freundlich, ich sei wohl nicht die Chrissie die gemeint war und ich wäre weder Privatdetektivin noch hätte ich den Wahn, irgendjemanden hier verfolgen zu müssen. Es kam keine Antwort. Gut so.
Aller "guten" Dinge sind drei: gestern kam die dritte Mail: "Sach mal, halt dich zurück mit deinen Postings. Die letzen gingen ja noch, aber deine spitze Schreibe ist mir und den andern so auf den Nerv gegangen und wir waren echt erleichtert, als du dein Profil gelöscht hast. Fang also nicht wieder auf diese Art an zu posten, sonst melden wir dich sofort beim Admin und dann biste weg vom Fenster!!"
Darauf habe ich nicht mehr geantwortet.
Was war da los? Bin ich so "allerweltig", dass ich mit jedem weiblichen Wesen verwechselt werden könnte? Ist das Profil so null-acht-fünfzehn, dass es auf alles passen könnte? Der Blick in die weiblichen Profile meiner Altersklasse ließ diesen Schluss nicht unbedingt zu.
Ich begann zu begreifen, als ich überlegte wo ich mich befand, nämlich in der virtuellen Welt der Menschen die nach andern Menschen suchen, meist weil sie einsam, allein, unverstanden oder unzufrieden mit sich und ihrem Leben sind.
Einige haben eine Form der Selbstdarstellungs-Sucht, andere sehen es als die einfachste Möglichkeit, sich von ihren Sorgen abzulenken.
Sie sind hier was sie sein wollen. Und sie sind oft nicht wer sie sind.
Alles ist möglich hier und doch sind die User überzeugt, ihre einzigartige Individualität gerade hier ausleben zu können. Wo denn auch sonst, denn der Alltag lässt nur wenig Raum dazu.
Sie können ihre Vorlieben genau formulieren, müssen sich nicht hinter Fassaden von moralischer Ehrbarkeit verstecken, hoffen auf Gleichgesinnte, das schnelle Vergnügen, das ewige Gefühl, die tiefe Akzeptanz, das unerschöpfliche Verständnis, die unerreichte Seelenverwandtschaft..
Und um das zu erreichen, bilden sie ein Bild eines Seins, das nicht unbedingt das wahre Bild ihres Selbst ist.
Es gibt immer Ausnahmen, und die sind dann schwer zu entdecken und dürfen daraufhin auch nicht aus der Reihe tanzen. Dann werden sie zu Julia, Chrissie oder wer auch immer.
Ist es denn überhaupt noch wichtig, sich selbst zu sein, sein wahres Ich (soweit erkannt), hier darstellen zu wollen, reicht es nicht, einfach Busen und Po oder Kontoauszug und Automarke anzugeben, nebst Alter und Gewicht selbstverständlich, und dann ist alles klar?
Kümmert es die Einen, welche Träume die Andern haben, welche Sehnsüchte? Kümmern sie all die vielen Details die mehr oder weniger genau in Profilen zu finden sind? Wer liest sie sich wirklich durch, wer sieht sich die Mediaboards genau an? Wo liegt der wahre Grund des Interesses an einem Profil, hinter dem doch ein Mensch steckt, oder stecken sollte?
Was also mache ich hier, fragte ich mich.
Ich dankte im Unterbewußten diesen Usern, die mich verwechselten, haben sie mir doch den Spiegel hingehalten und mich erkennen lassen, dass nicht ICH hier wichtig bin, sondern nur das Profil. Und das kann sein wie es will, Hauptsache neu, interessant, viel versprechendes Foto und eindeutiger Text.
Nun bin ich am aufwachen. Auch ich hatte mich in der kurzen Zeit meines Aufenthalts hier, mittels single.plattform, in Tagträume gestürzt und genau das getan, was ich jetzt den Andern vorwarf, nämlich mich in der Welt bewegt die vom Schein lebt, und habe genauso mitgemacht, gepunktet, gestickert, gemailt, erzählt und geträumt. Und ich habe mich sehr schnell davon verführen lassen und kurzfristig den Schein als Wahrheit angenommen ohne genau hinzuschauen und zu reflektieren. Ich war dabei, meine Werte stückchenweise aufzugeben für diese virtuelle Welt.
Jetzt gehe ich raus in den Winter, die Kälte. Ich brauche frische Luft, m mich selbst wieder zu finden, sonst verliere ich doch noch meine Verachtung vor mir selbst, denn meine Achtung war schon am wegdriften...
"Ich hatte zuerst die Achtung, dann die Verachtung meiner selbst zu verlieren..."
© Ghita Cleri
User | Diskussion |
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Blackforest | Geschrieben am: 27.09.2008 12:50 Aktualisiert: 27.09.2008 13:27 |
![]() ![]() User seit: 23.10.2005 aus: Beiträge: 1927 |
![]() Schade, daß immer mehr Menschen die Wirklichkeit verlassen!
Der Schein ist wichtiger als Sein. Was ist der Grund für so eine Fassade? In meiner Kunst gibt es schon eine Antwort auf den für immer stärker werdender Trend. Grüße Wolfgang End |