
Karin Schulze - Ein ganz normaler Sonntag im Pflegeheim....
Datum 01.11.2005 19:29 | Kategorie: Texte
| ...oder Schwester, ich will nach Hause!
Als heute Morgen um vier Uhr der Wecker mich unsanft aus meinem tiefen Schlaf riss, hatte ich das Gefühl, gerade erst ins Bett gegangen zu sein. Ich hatte gestern Spätschicht, kam gegen zweiundzwanzig Uhr nachhause und konnte unmöglich gleich zu Bett gehen. Mein achtundvierzigjähriger, nicht mehr all zu junger Körper, ist nach dieser Schicht immer dermaßen ausgepowert, dass er mindestens zwei Stunden vor dem Fernseher braucht um meine flatternden Hände und die schmerzenden Knochen wieder einigermaßen in Einklang zueinander zu bringen. Das ständige Sodbrennen, welches seit Wochen damit beschäftigt ist, mich von Innen her aufzufressen, tat sein übriges. Nach der kurzen Nacht fühlte ich mich müde, zerschlagen, hatte Magenkrämpfe und überlegte noch im Bett, wie ich den anstrengenden Sonntag im Altenheim, im dem ich arbeite, überstehen werde. Um meinen Göttergatten nicht zu wecken stand ich leise auf, schlich ohne Licht zu machen mit müden Schritten ins Bad und griff erst einmal nach meinem Magensaft. Obgleich dieser schon lange nicht mehr hilft mich schmerzfrei durch den Tag zu begleiten, sorgt er zumindest kurzweilig dafür, dass ich etwas Essbares zu mir nehmen kann.
Pünktlich um fünf Uhr stellte ich mein altersschwaches Auto vor dem Seniorenheim ab, rannte in die untere Etage und zog mich um. Rennen ist mir zur Gewohnheit geworden, es geht nicht mehr ohne. Anders wie bei unseren türkischen Mitbewohnern ist es mein Ehemann, der auf einigen Metern Länge hinter mir herläuft, weil er mit meiner Geschwindigkeit Probleme hat. Ich beeilte mich, schließlich wollte ich noch vor Dienstbeginn meine morgendliche Zigarette mit meinen Kolleginnen inhalieren. Wie immer blieb uns nicht viel Zeit, da ab halb sechs der Kampf gegen das unerbittliche ticken der Uhren im Altenheim beginnt. Vor einigen Wochen noch begann unser Dienst um sechs Uhr, mit ordentlicher Dienstübergabe, Arbeitsbeginn sechs Uhr dreißig. Mit zunehmender Pflegebedürftigkeit der Bewohner und fehlendem Personal, kam unsere Obrigkeit auf die glorreiche Idee, einfach unsere Arbeitszeit nach vorn zu verschieben. Nun fangen wir um halb sechs Uhr an die Bewohner zu waschen. Mir blutet jedes Mal das Herz, wenn ich pünktlich um halb sechs damit beginne, die tief schlafenden Bewohner zu wecken. Gibt es noch eine Gerechtigkeit? Im Heimvertrag steht, dass jeder aufstehen kann, wann er möchte. Immerhin handelt es sich hier um Selbstzahler, nix mit Kostenzuschuss vom Sozialamt. Natürlich hat die Nachtschicht auch schon mindestens drei schwerstpflegebedürftige Bewohner - die können sich ja nicht mehr wehren -, gewaschen. Ein hoffnungsvoller Blick auf den Dienstplan – man wird ja noch träumen dürfen, ernüchtert mich sofort. Wie immer sonntags, sind wir in der Frühschicht zu dritt - das bei vierunddreißig Bewohner, davon mindestens 70% schwer pflegebedürftig. Hinzu kommt die komplette Küchenarbeit. Speisesaal eindecken, abdecken, Frühstück und Mittag austeilen, Wagen bestücken, in den Zimmern Essen ausgeben, Bewohner, die nicht mehr selbständig essen können, die Speisen reichen. Nur kurz freute ich mich darüber heute Frühschicht zu haben. Ich schaute mir den Plan, der aufgrund des zurzeit sehr hohen Krankenstandes, fast täglich verändert wird, genauer an und stellte mit Entsetzen fest, dass ich die ganze Woche Spätschicht hatte. Ich schluckte meinen Frust. In der Spätschicht arbeiten wir täglich nur zu zweit. Gnade uns Gott es tritt ein Notfall ein und die Fachschwester wird deshalb abberufen. Krankenhauseinweisung, Papiere fertigmachen, Arztgespräche, dauern seine Zeit. Das bedeutet für die Pflegehelferin dann Dauerstress. Sie ist allein für 34 Bewohner und deren Bedürfnisse zuständig. Erst neulich fing eine neue Kollegin mitten beim Stullenschmieren plötzlich zu weinen an. Sie fühlte sich überfordert und hatte Angst ihr Pensum nicht zu schaffen. Ich konnte sie gut verstehen, aber helfen konnte ich ihr auch nicht. Mein schmerzender Magen zeigte mir schon lange an, dass auch ich längst am Ende meiner Kräfte war.
Nachdem ich meinen Frust einigermaßen im Zaum hatte, begab ich mich auf die obere Etage, Babsi, blieb in der mittleren, Jule ging nach unten. Noch während ich den Pflegewagen über den Gang mit den Einbettzimmern schob, öffnet sich links neben mir eine Zimmertür. Frau W. stand im Nachthemd und schaut mich geistesabwesend an. Ein Blick und ein Atemzug von mir genügten, um im Bilde zu sein. Frau W. hat ihre Kotbeschmierte Vorlage unterhalb der Knöchel zu hängen, das Nachthemd und ihre Hände starrten vor Dreck. Verwirrt versuchte sie die Füße aus der feuchten, stinkenden, Umklammerung zuziehen. Schnell streifte ich mir Handschuhe über und befreite sie aus ihrer misslichen Lage. Behutsam führte ich sie ins Bad. Frau W. ist hochgradig Demenz und fürchtet sich vor Wasser. Ich setzte sie auf den Duschstuhl und holte erst einmal ein Stück Schokolade aus dem Schrank. „Schauen Sie mal, ich habe hier etwas Leckeres“, sage ich betont freundlich und bemühte mich, ihre Scham und ihre Verwirrung zu überspielen. Ich tat so, als sei es alltäglich den eigenen Kot zu essen und mit dem Rest, die Wände zu beschmieren. Nachdem ich sie davon überzeugt hatte, dass Schokolade nur zu bekommen ist, wenn sie sich waschen lässt, half sie mir letztendlich laut schimpfend und nach mir schlagend, sich zu reinigen. Schweißnass, - meine Kleidung war von der Wasserschlacht triefend nass, bezog ich das Bett neu, kleidete sie an, reichte ihr ein Glas mit Tee und noch ein Stück Schokolade, - immerhin waren es noch zweieinhalb Stunden bis zum Frühstück. Dann schaltete ich den Fernseher ein und rannte mit einem Blick zur Uhr zum nächsten Heimbewohner. Flüchtig kamen mir Schuldgefühle. Frau W. schaut schon lange nicht mehr Fern. Ich hatte eindeutig zu viel Zeit bei Frau W. verbracht, das rächte sich nun. Herr S. lag vor seinem Bett, völlig durchnässt und wütend. Er wollte selber zur Toilette gehen, was ihm aufgrund seiner schweren Beindeformationen nur selten und wenn doch, nur am Gehwagen, möglich ist. „Wird ja Zeit, dass sich endlich jemand blicken lässt“, fauchte er mich böse an. Ich ging auf seinen Zorn nicht ein und stellte auch keine Fragen. Herr S. lebt längst schon in seiner eigenen Welt, nichts ist ihm mehr verhasst als Fragen auf die er keine Antwort mehr weiß. Ich rief nach Babsi, gemeinsam hoben wir ihn auf und überspielten fröhlich seine Hilflosigkeit. Als ich endlich, nach fast zwanzig Minuten zusätzlicher Zeit, - Zeit die ich nicht habe, sein Zimmer verlassen konnte, war er wieder besänftigt. Kurz nach acht begann ich, elf Bewohner später, diese zum Fahrstuhl zu bringen. Ich kaute unentwegt an meinem Kaugummi, einerseits, mein quälendes Sodbrennen in Schach zu halten, andererseits, meinen Durst zu dämmen. Seit zweieinhalb Stunden flitzte ich durch die Zimmer, ständig den Blick zur Uhr und hoffte, dass die Bewohner einigermaßen friedlich und sauber blieben. Meine Sachen hatte ich gar nicht erst gewechselt. Wozu auch? Ich hatte eh noch zwei außerplanmäßige Wasserschlachten hinter mich gebracht.
Meine Gebete wurden nicht erhört. Als ich Frau B. in den Rollstuhl setzen wollte, war ihre Vorlage patschnass, die Hosen durchgeweicht. Also noch mal ausziehen, sie trösten und mit einem Ohr auf die Bewohner am Fahrstuhl lauschen. „Bin ich hier richtig? ... was soll ich denn jetzt machen? ... keiner kümmert sich um mich“, höre ich die klagenden laute von Frau L. Ich beeilte mich, weil ich aus Erfahrung wusste, dass die anderen Bewohner am Fahrstuhl bei längerer Wartezeit, unruhig werden und dann meist beim Frühstück unleidlich oder über den ganzen Vormittag hindurch, verwirrt sind. Schnell hob ich die federleichte Frau B. in den Rollstuhl und eilte zur Tür. Frau B. begann zu weinen. „Schwester, ich will nach Hause“, jammert sie wie ein kleines Kind. Mir drehte sich der schmerzende Magen. Ich musste schlucken. Obwohl ich keine Zeit hatte, - immerhin soll es um halb neun Bewohnerfrühstück geben, die Wagen waren noch nicht vollständig gepackt, ich musste noch mindestens viermal mit dem Fahrstuhl hoch und runter - zog ich den Rollstuhl und die weinende alte Dame zum Bett, setzte mich darauf und nahm ihre Hand. „Frau B.“, begann ich ruhig zu sprechen, sie können nicht nach Hause, ihr zuhause ist hier, sie können nicht mehr allein leben, wir sorgen jetzt für sie.“ Ich fühlte mich schlecht. Ich hasse es so zu reden. Als wenn ich nicht wüsste, wie es ist, nicht zuhause sein zu dürfen. Jeder Krankenhausaufenthalt, jede längere Trennung von Daheim wurde für mich immer zur Tortur. Ich wollte nach Hause, meine eigenen vier Wände, nicht auf andere angewiesen sein. Ich konnte Frau B. so gut verstehen. Aber was sollte ich tun? Frau B. schaute mich traurig an. Sie erwiderte nichts. Wozu auch? Dieses Gespräch führten meine Kollegen und ich mehrmals am Tag mit ihr. Sie wusste, dass sie nie eine andere Antwort erhalten würde. Ergeben ließ sie sich die Tränen abwischen und zum Fahrstuhl schieben.
Endlich, gegen viertel elf, begaben wir uns zur unserer Frühstückspause. Wir hatten die Bewohner in ihre Zimmer zurückgebracht, zwischendurch neu gewindelt und einige mit ihren Rollstühlen in die Sonne geschoben. Nun warteten noch vier Heimbewohner darauf, gewaschen und aus ihre Betten geholt zu werden. Eigentlich hatten wir keine Zeit zum frühstücken. Der Speisesaal musste noch fürs Mittagessen eingedeckt werden, die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, wir hatten noch keine Zeit dafür gefunden das Frühstücksgeschirr in die Spüler zu räumen. Herr O. hatte sich den Frühstückskaffee über den Bauch gekippt und müsste umgezogen werden. Obwohl ich ihm einen sauberen Pullover hingelegt hatte, klingelte er ununterbrochen. Herr O. gehört zu den Bewohnern die sich noch allein an-, und ausziehen können, er aber der Meinung ist, dass ihm aufgrund seiner Zahlung privater Service zusteht und ihm die Schwestern dafür jeden seiner Wünsche erfüllen müssen. Ich ignorierte sein klingeln, weil ich das Gefühl hatte, keine Minute länger auf das greinen und depressive Gejammer der Bewohner um mich herum eingehen zu können. Ich hatte jede Menge schlechter Gedanken in mir und wünschte mir nur noch in Ruhe gelassen zu werden. Am liebsten hätte ich mich klonen lassen und eine ausgeruhte Karin zu den Bewohnern geschickt. Leider habe ich nur einen Kopf, zwei Beine und zwei Hände. Zu wenig für vierunddreißig Bewohner, die alle umsorgt werden wollen. Babsi und Jule saßen schon abgehetzt und müde in der Sonne und zogen an ihren Zigaretten. Erschöpft ließ ich mich fallen und pustete in meinen heißen Pfefferminztee. Kaum dass wir saßen, klingelte es erneut. Es war die Tochter von Herrn O. Sie kommt alle paar Monate vorbei, bevorzugt sonntags kurz vor dem Mittagessen, bleibt für ein paar Minuten und nutzt diese dann dafür, genau wie ihr Vater, das Pflegepersonal zu scheuchen. Beide sind davon überzeugt, dass uns keine Pause zusteht, immerhin werden wir ja von ihren Geldern bezahlt. Wir schauten uns an und fragten uns, wie lange es wohl diese Mal dauern wird, bis Frau O. bei uns vor Wut schnaufend erscheint. Wir brauchten nicht lange zu warten.
Die Zeit zwischen Mittagessen und beginnender Mittagsruhe verflog wie im Fluge. Zusammen mit meinen Kollegen rannte und hastete ich durch die Flure und den Speisesaal. Essen austeilen, Essen reichen, Medikamente verteilen, Toilettengänge vor der Mittagsruhe, Bewohner aus Rollstühle heben, in die Betten legen. Es bleibt keine Zeit zum trösten, zum Tränen trocknen, für Gespräche. Als ich um vierzehn Uhr Feierabend hatte, schlich ich mich müde und kaputt zu meinem Auto, immer das schlechte Gewissen im Bauch, nicht genug für die Bewohner getan zu haben. Ich hatte zwar unzählige Windeln gewechselt, Kot und Erbrochenes weggewischt, Essen gereicht und Medikamente verteilt. Bis auf Frau B. habe ich niemanden getröstet, mit keinem mehr als das notwendigste gesprochen. Resigniert lies ich mich zuhause angekommen, von meinem Mann in die Arme nehmen, trösten und zu Bett bringen. Ich war so geschlaucht, dass ich sein schönes Mittagessen, welches er für uns gekocht hatte, mit keinem Blick würdigen konnte.
Ich nahm meine Resignation Tag für Tag, Wochenende für Wochenende, mit nachhause schluckte sie hinunter. Solange, bis meine inneren Gefühle begannen mich aufzufressen. Magendrücken, Sodbrennen, schlaflose Nächte, wurden meine ständigen Begleiter. Ich meldete mich Krank, mit dem Ergebnis, dass meine Chefin mir nach anderthalb Wochen den medizinischen Dienst auf den Hals schickte. Ich lies mich obwohl ich immer noch Krank war gesund schreiben, und kündigte meinen Job. Ich hatte die Wahl. Ich konnte nachhause, weil ich noch eins habe. Zahlreiche alte Menschen müssen ihre letzten Jahre einsam und verlassen in Heime verbringen. Sie haben es einfach nicht verdient, so schlecht behandelt zu werden. Die Lösung? Nur zwei drei Mitarbeiter mehr. Ich liebe meine Arbeit, ohne Frage, Â…aber in keinem Arbeitsbereich gibt es so einen Verschleiß an Mitarbeitern, wie in einem Pflegeheim. Was tun wir unseren Eltern und Grosseltern an? Was tun wir uns selber an?
Karin Schulze im September 2005
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