
H. S. - Über das Küssen-Müssen
Datum 23.09.2008 21:56 | Kategorie: Texte
| Feuchte Küsse, spitze Küsse, küssen wollen stets die Leute, halten das für Wohlgenüsse, von der Steinzeit bis zum Heute.
Zugeküsst das halbe Leben, los geht’s schon im Mutterleib, Vati will mir Liebe geben, küsst den Bauch von seinem Weib. Kaum bin ich dann rausgeschlüpft, kommen alle angerannt, vor Freude wird wie wild gehüpft, krieg Küsse auf die Stirn gebrannt.
Und ist es Zeit erst für die Taufe mit Onkel Karl und Tante Lies, land’ ich vom Körbchen in der Traufe, ich finde ihre Küsse fies...
Als ich dann werde eingeschult, bekomm zur Feier eine Tüte, wird alles wieder abgespult, ich denk’ nur: Meine Güte!
Beim Wechsel aufs Gymnasium schenkt Tante Ruth mir einen Schekel, küsst ihn zuvor, mir scheint das dumm, ich spüre tiefen Ekel.
Bald geht es los dann auch mit Knutschen, die Jungen kommen angesaust, ich find’ es scheußlich, dieses Lutschen, so arg hat mir noch nie gegraust.
Die Ehe schließlich wird chaotisch, ich hatt’s mir anders vorgestellt, mein Mann ist wild und küsst despotisch, was ist das nur für eine Welt?
Nun kommt auch noch die Damenriege, und wie’s so ist – die küssen auch, ich wird’ geherzt von mancher Ziege, und sei’s auch nur rechts, links ein Hauch.
Warum nur, dachte ich mir oft, macht man so ein Theater, und habe still darauf gehofft, dass Schluss wär’ mit der Marter.
Und dann kam er, der Todeskuss, hat um das Leben mich gebracht, zwar macht’ er mit dem Küssen Schluss, doch so hatt’ ich’s mir nicht gedacht.
Jetzt lieg’ ich einsam in dem Grab und find’ es öde und sehr leer, sehn’ mich danach, was man mir gab, doch nun – nun küsst mich keiner mehr...
@ H. S.
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