
Ghita Cleri - Un-Wesentliches
Datum 26.11.2008 18:11 | Kategorie: Texte
| Wären wir damals nicht zum Strand gefahren, ich hätte die Muschel nicht finden können, die ich jetzt in Händen halte und die mich an den Augenblick erinnert, als ich mich nach ihr bückte. Damals hörte dein Lachen im Hintergrund, sah aus den Augenwinkeln wie du zwei Kindern mit ihren Hunden zuschautest die im Wasser tollten. Du hast Hunde immer sehr geliebt, im Gegensatz zu mir. Ich mag Katzen. Das hat uns nicht gestört, wir hatten weder Katz noch Hund. Wir hatten auch keine Kinder. Als man uns damals sagte was auf dich zukommen würde, riet man uns gleichzeitig davon ab Kinder zu bekommen. Wir sollten das Leben, unsere gemeinsame Zeit genießen, meinten sie. Wir hielten uns daran. Du wärest mir nur ein paar wenige Jahre geblieben, laut den Aussagen der Spezialisten. Wir nahmen ihre Worte ernst. Wir reduzierten unser Leben auf das Wesentliche. Wie?! So, wie wir damals das Wesentliche definiert hatten. Wenig besitzen, viel Zeit nutzen, wenn möglich miteinander, nicht an morgen denken, nicht auf morgen handeln – nur jeden Augenblick wichtig sein lassen. Warum ein Kind, wenn es so früh keinen Vater mehr hätte und die wenige uns verbliebene Zeit für seine Interessen geopfert werden müsste? Warum einen Hund, der viel Zeit und Raum und Geduld in Anspruch nimmt. Warum eine Katze, die schlussendlich auch bindet.
Auf diese Weise begann unser Weg nach deiner Diagnose. Unser gemeinsame Weg davor war kurz gewesen, wir waren doch erst Ende zwanzig. Blieben wir deshalb zusammen, weil wir noch so jung waren und noch voller Ideale für Liebe? Jetzt, mit der Muschel in der Hand, frage ich mich, ob ich mit dem Wissen von heute auch so entscheiden würde. Ich kann es nicht beantworten.
Am Anfang warst du zurückhaltend, suchtest das Alleinsein. Ich litt. Dann haben wir geredet und Entscheidungen getroffen. Der Bausparvertrag wurde aufgelöst, eine neue Wohnung, kleiner, war schnell gefunden, ein bequemes Auto und kein sportliches mehr.... Wir fokussierten unser Leben nur auf uns selbst. Ich ging nur noch kurze Zeit arbeiten, denn unsere finanzielle Situation erlaubte es. Du warst sowieso immer von zuhause tätig als freier Journalist. So waren wir fast ungetrennt zusammen. Wir teilten uns den Alltag auf, ich kümmerte mich um all das was dir das Leben leichter machen könnte damit du dich um deine Interessen kümmern konntest. Wir machten Reisen; du wolltest noch viel sehen. Irgendwann würden deine Beine sowieso nicht mehr mitmachen und deine Augen auch nicht. Und schieben lassen auf einem rollenden Stuhl durch Urwald oder Canyon wolltest du schon gar nicht. Ich hätte es für dich getan, das wusstest du. Wir fingen an uns zu isolieren, brachen die meisten Kontakte ab. Nur wenige blieben, die zur Familie oder ganz engen alten Freunden. Du wolltest, wenn es nicht mehr zu übersehen wäre, niemandem Erklärungen abgeben. So merkten wir nicht, wie wir langsam immer mehr auf der Oberflächlichkeit des Lebens trieben. Mich nach deinem Befinden zu erkundigen hatte ich längst aufgehört: damit du nicht immer an deine Krankheit erinnerst würdest. Im Nachhinein war mir, als ob das Ignorieren deiner Krankheit einen Einfluss auf ihren Verlauf hatte. Denn die Jahre liefen weiter, wir füllten sie mit unseren Wesentlichkeiten die wir nicht mehr nachfragten und merkten nicht, dass die Zeit, die dir damals gegeben wurde, längst überschritten war. Kleine Unpässlichkeiten waren anfangs noch der Anstoß zum erinnern, doch auch diese Unpässlichkeiten wurden geringer. Anfangs gingst du regelmäßig zu Untersuchungen und dann immer weniger. Wann du das letzte Mal dort warst habe ich dich nie gefragt. Auch das habe ich geflissentlich ignoriert. Wir teilten jede mögliche Zeit miteinander, nur deine Krankheit behieltst du als Ganzes für dich allein. Vielleicht hat mir dein Verhalten auch gepasst, es hat mir das Nachdenken weggenommen. So verging die Zeit, wir haben die Jahre selten gezählt. Wir waren beschäftigt damit, sie mit Wesentlichem zu füllen weil wir für Unwesentliches keine Zeit opfern wollten. Wir waren fast immer zusammen und merkten nicht, wie wir uns entfremdeten. Was sollten wir uns denn noch erzählen, außer über neue Reisen, alte Reisen, Gegenstände der Erinnerungen, Literatur, Kultur, Kunst, Fernsehsendungen oder Radioreportagen, ich probierte neue Rezepte aus, las und schrieb und nähte. Wir strichen regelmäßig die Wohnung, dekorierten sie ab und zu um, kauften das eine oder andere Möbel neu, gingen in die Stadt oder in den Park, schauten den Leuten zu und nach. Manchmal, nächtens, wenn du mich liebtest, dann erschrak ich weil ich mich fragte, wer der Mann in mir ist. Ich habe es stets sofort verdrängt. Wir liebten uns nicht oft, eigenartig. Wir liebten uns doch....
Wir hatten dein Todesurteil akzeptiert, damals, und es als Menetekel über unser Leben hingenommen. Wir lebten mit dem Bewusstsein, dass deine Lebenszeit kurz sei. Zwanzig Jahre lang lebten wir mit diesem Bewusstsein und den daraus entstandenen Entscheidungen. Waren sie richtig? Heute stehe ich hier, mir eine kleinen weißen Muschel in der Hand und frage mich das zum ersten Mal wirklich. In der Zwischenzeit hätten wir schon mehr als einen Hund haben können, in einer schönen Wohnung am Rande der Stadt leben oder einem kleinen Haus im Moor, eine Katze vielleicht noch dazu, unser Kind wäre erwachsen; würde es studieren wäre es schon nicht mehr zuhause.
Was hatten wir uns zu leben gelassen? Was hatten wir uns genommen in der Überzeugung uns allein nur das Wesentliche zu nehmen was das Leben bietet? Was haben wir davon gehabt? Haben wir etwas verloren dabei?
Heute weiß ich, das Schlimmste war, wir hatten die Freude am Leben abgelegt, diese Freude die entsteht, wenn das Unwesentliche einen streift. So, wie wenn man eine Muschel aufhebt und noch eine und noch eine und sie dann alle noch feucht und sandig, in die Jackentasche steckt. Man schaut in die Sonne, setzt das Gesicht dem Wind aus und freut sich über den Augenblick.
Wir wollten das Leben konsumieren, wir wollten es füllen und im Zeitraffer leben, damit wir soviel wie möglich mitbekommen. Aber wir alle haben allein nur die Zeit, die wir uns nehmen. Haben wir wirklich gelebt und war es richtig?
Vor ein paar Wochen bist du dann für immer gegangen. Nicht deine Krankheit war die Ursache sondern ein Verkehrsunfall. Ich wollte es anfangs nicht glauben. Ich begriff, dass ich niemals Angst hatte um dich, niemals annahm, dir könnte sonst etwas passieren als das, was man dir vor vielen Jahren androhte. Wir dachten immer, wir hätten das Leben im Griff, so lange es uns bleibt. Wir dachten, alles wäre so geplant, dass das größt- und bestmögliche uns geboten wird. Wir haben so sehr an die vorhergesagte Zukunft gedacht und sie als einzigen Maßstab genommen. Wir haben uns niemals gefragt was wir brauchen, immer nur, was wir wollen. Wir existierten nach Plan. Das Leben spielt aber nicht mit. Irgendwann hört es auf, für jeden. Die Zeit dazwischen ist das Geschenk. Wir haben uns bloß geweigert es auszupacken weil uns gesagt wurde, wir müssten es irgendwann zurückgeben.

Ich denke an den Tag als ich nach der Muschel griff, ich höre dich über die Hunde lachen und sehe immer noch deinen sehnsüchtigen Blick...
© Ghita Cleri
|
|