
Wolfgang End - Der weise Wurm
Datum 17.01.2008 11:48 | Kategorie: Texte
| Zwei Würmchen schlängeln sich durch den unteren Wurmgang Richtung Süden. Es ist Nachmittag, aber untertags spielt das keine große Rolle. Sie möchten schnellst möglich den Komposthaufen erreichen, wo es so herrlich nach Kartoffelschale, faulen Äpfeln und Kaffeesatz riecht. Warum soll man sich mit gewöhnlicher Erde begnügen, wenn der Mund etwas Feineres schnuppert, wie frischen Kaffeesatz einer Espressomaschine? Der Weg dorthin ist nicht ganz ungefährlich. Auch wenn die beiden der unteren Röhre folgen und somit unter der Erde, geschützt vor Vögeln und Hühnern, bleiben. Vor dem Maulwurf wird gewarnt und ebenso vor Mäusen, die ihre Wohnung auch unter der Erde haben. Auch soll es aufrecht auf zwei Füßen lebende Kreaturen geben, die nach Regenwürmern graben. Unter den Menschen werden diese "Angler" genannt. Dies ist eine Menschenart, die den Regenwurm an einen Hacken hängt und mit einer langen Schnur solange im See und Fluss badet, bis ein Fisch anbeißt. Der Regenwurm geht dabei vor die Hunde. Die Erde ist kühl und trocken. Einige Zeit ist schon vergangen. Aber der Geruch von Kaffeesatz gibt nochmals Kraft. Endlich ist der Boden des Komposthaufens erreicht. Weiße Wurzeln schlängeln sich auf der ehemaligen Gartenoberfläche, auf der jetzt der Komposthaufen ruht. Wie das riecht und duftet! Es gibt einen Wurmtreffpunkt dort im Komposthaufen. Es ist das Wurmstübl, wo man jeden trifft und auch das "Neueste" erfährt und wo besonders die alten Würmer ihren Tag verbringen. Man weiß auch nicht, wie alt man wird. Denn überall lauern Gefahren und der allgemeine Wurm kann Gott danken, wenn er nicht von einem anderen Erdbewohner gefressen wird, bevor er eines natürlichen Todes stirbt. Die beiden Würmchen sind deshalb auch heilfroh, als sie ins Wurmstübl hineinkriechen. "Schau, dort hinten ist ja Erwin!" Erwin ist für einen Wurm schon ganz schön alt. Seine Haut ist nicht mehr ganz rot. Sie ist weißlich geworden. Sein Körper hat eine Länge von fast 32 1/2 Zentimetern und besteht aus 192 einzelnen Segmenten. Ganz beachtlich für einen solch alten Wurm. Und wenn wir schon vom Alter sprechen. Er soll bereits neun Jahre auf seinem Buckel oder besser gesagt auf seinem "Gürtel" haben, wobei ein gewöhnlicher Wurm mit zwei Jahren schon als alt bezeichnet wird. "Hallo ihr beiden. Schön, dass ihr hier seid!" Ja, so ein alter Wurm hat viel zu erzählen. Viel spricht er von der Vergangenheit, wie es alte Würmer so gern tun. Das Leben ist abgeschlossen und wieso soll man noch in dem Alter große Zukunftspläne schmieden. Die Freude über jede überlebte Stunde ist groß. "Ist es nicht ungerecht, dass wir den anderen Lebewesen als Nahrung dienen?" "Nein, ihr beiden!", kommt die Antwort vom alten Wurm in Raketenschnelle. "Wenn man das Leben auf der Erde in der Gesamtheit betrachtet, nicht.“ „Kein Lebewesen kann auf der Erde für sich alleine überleben. Gerade die Größten sind nur so groß, weil kleinere die Bedingungen dafür schaffen. Ist das "Gefüge" gestört, sei es durch einen Vulkan, gibt es ein Massensterben und die Pionier-Lebewesen können wieder von vorne anfangen. Jedes Lebewesen hat hier auf der Erde seine Aufgabe und trägt durch seine spezielle Aktivität zum Überleben der anderen Kreaturen und letztendlich seiner eigenen bei. Ohne Bäume hätten der Mensch und die Säugetiere keinen Sauerstoff. Auch uns gäbe es nicht, wenn wir nicht durch unsere Haut Sauerstoff einatmen könnten. Der Baum wirft seine Blätter ab. Wir fressen diese und sorgen dafür, dass der Baum über unseren Darm seine Blätter als wertvolle Mineralien zurück bekommt. Die Erde wäre ohne Regenwurm nicht am Leben und der Regenwurm könnte ohne Erde auch nicht leben. Wir bauen Gänge und mischen dadurch den Boden. Er wird in Bewegungsrichtung aufgeworfen und verfrachtet. Dabei bringen wir Humus nach unten und Mineralien nach oben. Das Regenwasser strömt nicht flächig über den Boden und reißt die Erde mit sich fort, sondern versickert in den Röhren wie in einem Schwamm. Auch der Maulwurf pflügt die Erde um, aber nur solange es uns Regenwürmer gibt. Außerdem ist unser Kot der beste Dünger auf dem Planeten. Er übertrifft sogar den Kompost, der schon mehr als überreich an Nährstoffen ist. Wir produzieren über unseren Darm sechsmal mehr an Stickstoff, achtmal soviel Kalium, bis zu 25mal soviel Phosphor. Wir brauchen uns nur durch die Erde zu fressen und welches Tier kann schon 24 Stunden am Tag fressen und dabei der Allgemeinheit nützen? Unser Lohn sind tote organische Stoffen und unser Austausch dafür ist unser so wertvoller Kot, der anderen Lebewesen wieder als Dünger dient, die wiederum anderen höheren Lebewesen als Nahrung dienen und wir dafür tote Organismen als Nahrung zurück bekommen. Auch wenn wir von anderen Lebewesen gefressen werden, sind wir immer noch so zahlreich, dass wir überleben und denen, die uns fressen, eine "lange Nase "machen können."
Und wenn die zwei Würmchen und der alte weise Wurm nicht gefressen wurden, so durchbohren sie noch heute die Erde und sorgen für bessere Lebensbedingungen der dort lebenden Lebewesen!
© Wolfgang End
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