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Beate Köhlein

Fledi Maus - Oder die Fledermaus, die sich nicht mehr hängen lassen wollte


Die letzte Zeit meines Lebens habe ich mich eigentlich nur hängen lassen. Immer wieder, immer wieder, immer wieder. Meistens am Tag. Es hing sich teilweise echt gut. Es war bequem, einfach und gemütlich. Aber nur vom körperlichen her. Psychisch ging es mir dabei nicht gut. Absolut überhaupts gar nicht. Entschuldigt meine vielleicht grammatikalisch falschen Ausdrücke. Aber anders kann ich meine Gefühle nicht genau zur Geltung bringen. Mann, was gingen da für Sachen ab, nachdem ich beschloss, mich zu verändern. Wollt Ihr die abgefahrenste Geschichte aus meinem Leben erfahren? Ok, Ihr braucht nur weiter zu lesen.
Vielleicht sollte ich mich zuerst einmal vorstellen. Ich heiße Fledi. Bin ein Fledermausmädchen! Mein Nachname ist Maus. Sehr passend, nicht wahr? Dabei ist das eher Zufall! (Obwohl mir irgend jemand mal erzählte, es gäbe keine Zufälle!) Mein Vater heißt mit Nachnamen Maus. Mit Vornamen Franz. Meine Mutter heißt Franziska. Wieder ein Zufall? Meine Eltern sahen das auf jeden Fall als "Wink des Himmels" als sie sich ineinander verliebten. Und so entschieden sie sich auch, daß die Namen all ihrer Kinder mit einem "F" beginnen sollten. Ich muss dazu sagen, daß das bei uns Fledermäusen eh so eine Art Brauch ist. Jeder Stamm (bei den Menschen sagt man dazu Familie), gibt seinen Kindern Namen, die mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Man redet dann oft nur von der H-Familie, oder der Z-Familie. Wir sind die F-Familie. (Eigentlich logisch!) Ich bin zur Zeit so ziemlich in der Mitte unserer Familie. Vom Alter her, meine ich. Ich habe sechs ältere Geschwister und zur Zeit fünf jüngere. Ich sage mit Absicht "zur Zeit". Zwölf Kinder sind für unsere Art von Fledermäusen nämlich noch ziemlich wenig. Irgendwann werde ich vielleicht sagen, ich bin ziemlich am Anfang in unserer Familie. Aber wie entstand mein Name? Ich glaube, ich bin die einzige Fledermaus, die mit Vornamen Fledi heißt. Den Namen haben meine Eltern nämlich erfunden. Ihnen ist absolut kein Name mehr mit "F" eingefallen. So erlaubten Sie sich einen kleinen Witz, da wir ja mit Nachnamen Maus heißen. Naja, mir gefällt mein Name. Er passt irgendwie zu mir. Kann das gar nicht erklären. Nur in der Schule wurde ich immer wieder mal gehänselt. Eben wegen dem "Fledimaus"! Ist ja auch irgendwie blöd. Es wäre das gleiche, wenn mein Vater Franz Branntwein heißen würde. Oder meine Mutter Franziska Ner. Oder ein Chinese Zei Tung! Ok, Spaß beiseite. Irgendwann störte mich die "Hänselei" aber nicht mehr. Und bald gaben es meine Mitschüler auch auf, weil ich mich nicht mehr ärgerte. Vielleicht noch ein bisschen, aber nur innerlich. Und komischerweise fiel meinen Eltern für meine jüngeren Geschwister, auch wieder bessere Namen mit "F" ein. Aber was soll’s. Mittlerweile bin ich stolz auf meinen Namen!

Wir bewohnen, bzw. ich bewohnte damals mit meiner Familie einen dicken, sehr großen Baum inmitten eines Park. Es ist ein mittelgroßer Stadtpark. Schön gelegen, mit einem kleinen Fluss, der sich von vorne bis hinten durchschlängelt. Wir wohnten in einer Art Kolonie. Das bedeutet, dass einige Familien in unserer Gegend wohnten. Neben uns wohnten die "W"s, fast gegenüber die "L"s. Hinter den "L"s die "A"s. Meine beste Freundin gehört zur A-Familie. Sie heißt Amy. Mit ihr bin ich aufgewachsen. Und wir haben schon sehr viel zusammen erlebt.

Wenn ich abends nach dem Aufstehen in den Spiegel schaute, musste ich meistens lachen. Denn das war noch gar nicht richtig ich. Es war irgendein Gesicht, noch etwas verschwommen, und ich erschrak jede Nacht davor. Aber eben so, dass ich dann lachen musste. Und wenn ich gelacht hatte, dann konnte die Nacht beginnen. Wir Fledermäuse sind ja Nachttiere. Deswegen mag es für Euch jetzt vielleicht etwas komisch klingen. Für uns ist die Nacht eben das, was für Euch der Tag ist. Und wenn ich sage, ich schaue, dann meine ich meistens ich echolote. Wir können mit unseren Augen zwar schauen, aber in der Nacht ist ja bekanntlich alles dunkel. Also echoloten wir. Ich bin eine sehr gute Echoloterin. Bin noch nie gegen etwas geflogen. Und das ist fast allen meinen Bekannten und Verwandten schon passiert. Sie kamen dann mit Pflastern oder Kopfverbänden an. Mein Bruder hatte sich sogar mal den Flügel gebrochen. Der Laternenpfahl war einfach in seine Flugbahn gehüpft, wie er immer scherzhaft erzählt. Ich bin ziemlich stolz darauf, daß ich bis jetzt jedem Hindernis ausweichen konnte. Auf jeden Fall jedem materiellen Hindernis. Den Hürden, die mir das Leben so bot, konnte ich nicht ausweichen. Und das war auch, natürlich im nachhinein gesehen, ganz gut so. Wenn mir das einer während meines Hürdenlaufes erzählt hätte, ich hätte ihm heimlich sein Echolotsystem verschmutzt. Das geht zwar nicht, ist aber so eine Redewendung bei uns.
Tja, am Anfang erzählte ich, daß ich mich ziemlich hängen ließ. Das war so gesehen, ja auch ganz normal. Ich bin nun mal eine Fledermaus, und wir hängen uns tagsüber in unsere Baumhöhle und schlafen. Habt Ihr schon mal Fledermäuse in einer Höhle hängen sehen? Da hängt eine neben der anderen. Wir umklammern mit unseren Füßen quasi unser Bett, und baumeln kopfüber nach unten. Wie gesagt, bequem ist das schon. Aber ich hatte das plötzlich so richtig satt. Warum? Kann ich Euch erklären.
Mein riesengroßes Problem lag darin, daß ich noch nie einen richtigen Fledermausfreund hatte. Ich war zu dem Zeitpunkt immerhin schon 4 und das ist für eine Fledermaus schon ziemlich alt, um noch keinen Freund gehabt zu haben. Oh, da wären schon ein paar gewesen, die mich gerne zur Freundin gehabt hätten. Mich, Fledi Maus! Aber die wollte ich nicht. Entweder es waren Machos, ja es gibt sie auch bei uns Fledermäusen, oder totale Langweiler. Solche, die beim Weggehen ihren Mund nur aufbrachten um ihre Zähne in eine Kuh zu schlagen und zu trinken. Mit solchen konnte ich nichts anfangen.
Wie war das doch schrecklich, ständig nach irgendeinem neuen Gesprächsthema zu suchen, das dann doch nur mit einem "Ja", "Nein" oder "Ich weiß nicht" abgetan wurde. Wie hab ich solche Morgende oder Tage gehasst.
Ja, Ihr habt schon richtig gelesen, auch wir Fledermäuse haben ein Tagleben, das Ihr Nachtleben nennt. Wir haben in unserer Gegend auch einige Bars. Natürlich nicht zu vergleichen mit Euren. Die Bars sind bei uns Koppeln oder Weideplätze. Dort stellen sich die Pferde, Kühe, Schafe oder Ziegen freiwillig zur Verfügung zum Anzapfen. Wir Tiere können uns ja untereinander verstehen, und das wurde mal so beschlossen. Als Gegenleistung kratzen wir die Tiere z. B. am Rücken, wo sie nur sehr schwer selbst hinkommen. Die paar Tropfen Blut tun den Tieren nicht weh, und eine Abmachung sagt auch aus, daß nie mehr als z. B. 10 Fledermäuse an einer Kuh trinken dürfen. Und wir würden auch nie auf Tiere losgehen, die sich nicht selbst zur Verfügung stellen. Soviel also dazu und zu dem Gerücht der blutrünstigen Vampire, das sich nun ziemlich zerstreut haben dürfte.

Ja, warum hatte ich noch keinen Freund? Es kam bestimmt auch daher, daß ich schon ziemliche Angst hatte, wenn jemand nur den Flügel um mich legte. Und das kam schon hin und wieder vor. Mittlerweile kenne ich aber mein Problem, und über das Problem konkret will ich jetzt auch gar nichts erzählen.

Ich will vielmehr davon erzählen, daß ich mich immer so hängen ließ. Und ich meine jetzt nicht den Tag über, sondern meine Psyche. Mir war lange Zeit alles egal, hatte keine Freude am Weggehen und Tanzen. Wollte nichts lesen, oder basteln. Ich hing einfach an meinem Platz im Baum und grübelte über mein Leben nach. Ich fand so unfair, daß nichts so lief, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich fand es ja noch unfairer, daß manch andere Fledermausmädchen einen Freund nach dem anderen hatten, und ich? Ich hing also da, um zu hängen.
Bis ich eines Tages beschloss, daß das mit dem Hängen lassen nun ein für alle Mal vorbei sein musste. Ich wollte leben, jede Nacht genießen, die mir geschenkt wurde. Ich flatterte also eine ganze Nacht durch die Gegend. Ganz schnell, ließ mich von niemandem aufhalten, hab mit keinem gesprochen. Und am Morgen war mir klar, daß ich es jetzt packen und durchziehen konnte.
Ich wollte ein glückliches Fledermausmädchen sein. Das Leben musste doch irgendwo auch schöne Seiten zu bieten haben. Und um meinen Gefühlen und meinem Denken Ausdruck zu verleihen, wollte ich auch nicht mehr im Hängen schlafen. Es hätte nicht mehr zu meiner Lebenseinstellung gepasst. So kam es, daß ich mir im Baum einen Platz suchte, wo ich im Stehen schlafen konnte. Das war gar nicht so einfach, denn unsere Wohnungen sind nun mal zum Hängen gebaut. Doch ich hatte Glück. In einer Nische war ein kleiner Vorsprung. Genau richtig um mich hinzustellen und an die Wand zu lehnen.
Ich sag’s Euch, die erste Nacht war schrecklich. Ich bin mindestens fünf mal von meinem Vorsprung runtergefallen, hätte mir beinahe den Flügel verstaucht. Aber ich gab nicht auf. Ja, der Ehrgeiz packte mich. Das Hängen lassen war einfach vorbei. Abends schaute ich recht müde aus der Wäsche, und vor dem Spiegel erschrak ich noch mehr als sonst, aber ich musste um so mehr darüber lachen, und war deswegen um so besser drauf. Meiner Freundin Amy fiel das auch gleich auf. "Was ist denn mit dir los?" fragte sie verwundert. "Ich lasse mich einfach nicht mehr hängen!" War meine Antwort. "Hey, find ich toll, dann können wir ja bald mal wieder auf die Piste gehen!" Ich ging gar nicht auf ihren Satz ein, sondern sagte: "Und ich werde mich auch nicht mehr hängen lassen. Hab heut Tag im Stehen geschlafen!" Gespannt wartete ich auf ihre Reaktion. Würde sie mich verstehen? Sie kniff die Augen zusammen. "Im Stehen?" "Ja, mit Hängen lassen ist es jetzt vorbei. Ich will meinem neuen Lebensgefühl eben einen Ausdruck verleihen. Ich will Spüren, daß ich jetzt anders lebe und denke!" Amy musste lachen. "Du spinnst!" Aber der Ausspruch klang liebevoll. "Und, wie schläft es sich im Stehen?" "Willst du die Wahrheit hören? Beschissen, aber ich krieg das schon irgendwie auf die Reihe!" Amy patschte mir mit dem Flügel auf meine Schulter. "Du bist verrückt!" lachte sie. Und mir tat das sooooo gut. Ich wollte immer schon ein wenig verrückt sein. Mal über die Stränge schlagen, jede Nacht neuen Blödsinn aushecken und es mir dabei so richtig gut gehen lassen. Einfach mal leben. Und damit hatte ich ja letzten Tag begonnen. Ich war die erste Fledermaus, die im Stehen geschlafen hatte. Ein tolles Gefühl.

Diese Geschichte machte ziemlich schnell die Runde. Amy hatte es zu Hause erzählt. Sie hatte 20 Geschwister, die es jeweils ihren Freunden erzählten usw. Ich war im Stadtpark bald bekannt, wie ein bunter Hund. Aber nicht alle fanden meine neue Lebenseinstellung so cool wie ich. Quertreiber nannten mich die einen, Kranke die anderen. Und ich? Ich freute mich darüber. Ich fand es so lustig zu sehen, über welche Sachen sich manche Fledermäuse die Köpfe zerbrachen. Als gäbe es keine anderen Sorgen. Es konnte ihnen doch sowas von egal sein, ob ich stehend oder hängend schlafe. Manche sahen mich sogar als Bedrohung für die gesamte fledermäusische Bevölkerung und schrieben einen Brief an die WWFLO (Weltweite Fledermauslebensorganisation), von denen ich aber nie irgendetwas hörte. Schade eigentlich, hätte mich durchaus auf eine Diskussion eingelassen. Einige meiner alten Bekannten wandten sich von mir ab. Aber meine besten Freundinnen ließen mich nicht hängen. (Was für ein Wortspiel!) Das schlafen klappte mittlerweile auch schon total gut. Hatte mir die Nische mit Gras gepolstert und etwas geformt. Jetzt saß ich eher, so ähnlich wie die Menschen in ihren Korbstühlen sitzen. Und es schlief sich wunderbar. Meine Eltern hatten es längst aufgegeben, mich zu kurieren. Es passte ihnen zwar nicht so, daß über die "F"s so getratscht wurde, aber irgendwann nahmen sie es wohl einfach als gegeben hin.
Es kam der Tag, an dem ich Willi näher kennen lernte. Willi gehört zu den "W"s, die neben uns den etwas kleineren Baum bewohnten. Ich kannte Willi vom Sehen schon seit ich ganz klein war. Aber er war immer so sonderbar. Hat selten mit uns gespielt, hing immer bloß irgendwo rum. Und irgendwer erzählte mal, dass er kein Blut sehen könnte, was alle natürlich fledermäusisch lustig fanden.
Ich saß also vor unserem Baum und schaute den Mond an, der so toll schien und riesengroß zu mir herunter schaute. Willi hatte sich so leise angeschlichen, daß ich total erschrak, als er plötzlich neben mir stand. "Darf ich mich setzen?" fragte er leise. Zuerst war ich gar nicht so begeistert, nickte aber schließlich. "Will dich aber echt nicht stören, also wenn es dir nicht recht ist, daß ich mich neben dich setze, du brauchst es nur sagen und ich bin sofort weg, weil weißt du...!" Ich starrte ihn an. Hatte von ihm noch nie mehr als 5 Worte am Stück gehört. "Setz dich einfach!" unterbrach ich ihn, 'und halt die Klappe' setzte ich in Gedanken nach. Willi setzte sich ganz rasch, als könnte ich es mir nochmal anders überlegen. Er faltete ordentlich seine Flügel. "Und, was kann ich für dich tun?" fragte ich. "Öhh, nichts. Eigentlich nichts. Ich wollte nur einfach neben dir sitzen!" 'Oje', dachte ich mir. 'Schon wieder so ein Langweiler, der nichts zu reden weiß.' Und ich hatte auch null Bock auf eine Alleinunterhaltung. Obwohl mich die Frage schon gedrückt hätte, ob er jetzt Blut sehen konnte, oder nicht. Aber ich hielt meinen Mund, und schaute zum Mond. "Magisch, findest du nicht?" kam plötzlich von nebenan. "Wie?" fragte ich. Willi erschrak. Er merkte wohl erst jetzt, daß er laut gedacht hatte. Aber erstaunlicherweise wirkte er gar nicht so verunsichert, wie ich es erwartet hatte. "Magisch", wiederholte er. "Meinst du, es sitzen gerade noch zwei andere Fledermäuse irgendwo auf der Erde um den Mond anzuschauen?" Ich zuckte die Schultern. "Kann schon sein, warum?" "Na, irgendwie wären wir doch mit denen verbunden, oder nicht? Durch den Mond!" Er legte sein Kinn auf seine Knie. Ich sah ihn an. Klang toll, wie er das sagte. "Ach ja", er seufzte tief, "irgendwie hab ich so viele Gedanken und Gefühle in mir, ich weiß gar nicht, wie ich sie aussprechen soll. Ich kann sie nicht aussprechen, es gibt keine Worte dafür!" Jetzt starrte ich ihn an. Solche Sätze von einem Jungen? Ich konnte es ja gar nicht glauben.
Und was noch sonderbarer war, er sprach mir aus der Seele. Wie oft schon saß ich einfach nur da, und fühlte so viel, ohne es deuten zu können. "Mir geht es genauso!" gab ich leise zu. "Ich hab oft das Gefühl, ich fühle den Sinn des Lebens und kann es einfach nicht verstehen, weil ich meine Gefühle nicht deuten kann!" Jetzt sah Willi mich an. "Ich wusste, daß du mich verstehen würdest!" sagte er. "Ich wusste es. Bis jetzt hat mich noch nie jemand verstanden. Du warst meine letzte Hoffnung." Ich konnte darauf irgendwie nichts sagen, und so starrten wir wieder beide den Mond an. "Jetzt sind wir auch gerade miteinander verbunden", meinte ich dann, "wir schauen beide gerade den Mond an." Willi lächelte. "Soll ich dir was verraten?" fragte er mich und grinste dabei. Ich hatte Willi noch nie grinsen sehen. Aber es stand ihm. Viel besser sogar, als immer diese ernste, nachdenkliche Miene. Ich schaute ihn mir genauer an. Hübsch war er nicht. Sein Gesicht war irgendwie schief, er hatte nur ein paar Barthaare, was überhaupt nicht männlich aussah. Sein Oberkörper war schmächtig, und die Beine wahnsinnig dünn. Und seine Flügel waren recht klein. (Vielleicht ernährte er sich doch nicht von Blut?!?) Nein, eine Schönheit war er nicht.
Aber trotzdem strahlte er in genau diesem Moment mehr aus, als manch ein Laufstegmodel. "Klar, verrate mir was!" forderte ich ihn auf, weil mir die Unterhaltung wirklich Spaß machte. "Also, ähm! Aber du darfst nicht lachen!" Ich schüttelte gespannt den Kopf. "Ok, also, seit einer Woche schlafe ich im Stehen!" "Nein!" entfuhr es mir. Und dann musste ich doch lachen. Aber ich lachte ihn nicht aus, in keinster Weise. Und Willi schien mein Lachen richtig zu deuten, denn er lachte mit.
Wir lachten, bis uns die Tränen die Backen hinunter liefen. Als wir uns beruhigt hatten fragte ich: "Wie kommst du darauf?" "Na, wegen Dir! Ich habe ja schon länger davon gehört. Wohn ja auch neben euch. Ich fand die Idee von Anfang an total klasse. Es steckt soviel dahinter! Eben auch wieder so viel Gefühl, das man nicht beschreiben kann. Das "Nicht-mehr-längen-lassen" so zu symbolisieren. Ich finde es so toll! Ich musste es einfach ausprobieren!" Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. Er war der erste, der so richtig verstand, warum ich das ganze machte. Als ich nichts sagte, sprach er weiter: "Ich wollte es einfach mal ausprobieren. Wollte wissen, was das für ein Gefühl ist." "Und?" "Es ist phantastisch. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so gut gefühlt. Es war was neues, aufregendes, eben für uns Fledermäuse total untypisch. Und genau deswegen so unendlich spannend." "Es ist als ob du in meine Seele schauen könntest." bemerkte ich. "Noch niemand hat mich so verstanden, wie du. Und das, obwohl wir noch nie miteinander gesprochen haben." Er nickte. "Aber du vergisst den Mond", sagte er dann, "denk daran, er verbindet uns gerade miteinander."
Willi und ich wurden die dicksten Freunde. Ich hätte früher nie gedacht, daß man mit ihm so viel Blödsinn machen konnte. Wir machten teilweise die Tage durch und schliefen die Nächte im Sitzen nebeneinander auf der Wiese, und wer gerade wach war, schaute zum Mond. Wir unterhielten uns viel über Gefühle, Empfindungen, das Zusammenleben der Fledermausgesellschaft, ja, eigentlich über alles. Aber nie über Beziehungen. Und er hatte auch noch nie Anspielungen gemacht. Das Thema kam bei uns gar nicht auf den Tisch. Obwohl es mich nachtnächtlich beschäftigte. Aber wenn ich mit Willi zusammen war, vergaß ich meinen Kummer. Außerdem gehörten wir ja zu der "Bewegung" der "Sich-nicht-hängen-Lassenden", und das Gefühl hielt bei mir noch immer an. Willi erzählte viel aus seiner Kindheit. Dass er immer so darunter gelitten hatte, wenn er nicht mitspielen durfte (und er ernährte sich übrigens doch von Blut, wie ich mit einer geschickten Frage herausbekam!), und er hatte sich deswegen schon sehr früh mit Gefühlen und dem Sinn des Lebens auseinander gesetzt. Mir tat er im Nachhinein noch leid, und ich nahm mir für die Zukunft fest vor, die Fledermäuse nicht mehr nach dem Aussehen und dem Verhalten zu beurteilen, sondern mir erst ein richtiges Bild von ihnen zu machen.

Es war der Morgen, an dem der Mond langsam unterging und die Sonne mit einem knallroten Himmel den Tag begrüßte. Ich war mit Willi mittlerweile 3 Monate eng befreundet. Wir saßen zusammen auf unserer Lieblingswiese und genossen den Augenblick, als die Vögel zu singen anfingen. Und plötzlich überkam mich das Gefühl des Alleinseins. Obwohl Willi neben mir saß. Wie gerne hätte ich mich jetzt an einen süßen Fledermausjungen gekuschelt. Ich fing an zu weinen. Es überkam mich einfach. Willi erschrak total: "Was ist mit dir, hast du dir weh getan?" Ich schüttelte den Kopf, was schon daher kam, weil mich ein richtiger Heulkrampf schüttelte. Willi strich mir sanft über den Flügel. "He, Fledi, was ist denn? Sag es mir doch. Vielleicht kann ich dir helfen!" Innerlich schüttelte ich den Kopf. Ich mochte Willi, aber ich war nicht verliebt in ihn. Und selbst, wenn er mich jetzt in die Flügel genommen hätte - ja, es wäre ein Trost gewesen - aber eben nicht D A S !! Dann brach es aus mir heraus: "Ach Willi, ich hätte so gerne einen Freund! Ich halte es schon fast nicht mehr aus, es frisst mich förmlich auf!" Willi stutzte: "Aber ich bin doch dein Freund!" Es war eines der ersten Male, daß Willi mich nicht sofort verstand. Oder stellte er sich so eine Beziehung vor?!? "Ja, klar!" heulte ich weiter. "Aber ich sehne mich nach einem richtigen Freund. Ich will mit ihm kuscheln, ihn küssen! Ihn lieben!" Willi sah betreten zu Boden. "Ach so, das meinst du!" murmelte er leise. Ich nickte und beruhigte mich langsam. "Sehnst du dich nicht nach einer Freundin?" fragte ich dann. "Nach einer richtigen Freundin!" setzte ich nach. Er reagierte lange Zeit gar nicht. Dann sagte er: "Weißt du, ich bin mittlerweile sieben Jahre alt, und habe noch nie eine Freundin gehabt. Und es wollte auch noch nie ein Mädchen was von mir. Ich habe die Hoffnung echt aufgegeben. Und ich war so froh, als ich dich richtig kennen gelernt habe. Du hast mir soviel gegeben, da konnte ich die anderen Gefühle hinten anstellen. Und außerdem", er stockte, "ich habe schon die ganze Zeit Angst, daß du dich in jemanden verliebst, und dann ist zwischen uns nichts mehr so, wie es gerade ist!" Willi schaute mich nicht an. "Würdest du es mir nicht gönnen?" wollte ich wissen. "Doch, natürlich würde ich es dir gönnen. Und wenn du es dir so sehnlichst wünschst, dann wünsche ich es mir für dich genauso sehnlichst. Und trotzdem habe ich wahnsinnige Angst davor." "Vor was?" "Verlassen zu werden!" murmelte er. "Aber ich würde dich nicht verlassen!" protestierte ich. "Du wärst doch immer noch mein Freund!" "Oh doch, Fledi, du würdest mich verlassen. Du wärst nur noch hin und weg von deinem Freund, von deinen neuen Erlebnissen, der Liebe, Romantik und Leidenschaft. Und was würde dein Freund dazu sagen, wenn du dich regelmäßig noch mit einem anderen Jungen treffen würdest?" "Das müsste er verstehen", warf ich ein. Willi seufzte: "Das sagst du jetzt, und trotzdem würdest du dich von mir zurückziehen!" Ich sagte gar nichts mehr. Irgendwie sagte mir mein Gefühl, daß er recht hatte. Ja, das es so sein musste! Und trotzdem wollte ich es nicht wahrhaben. "Dann müssten wir für dich eben ein Fledermausmädchen suchen!" schlug ich vor. "Dann könnten wir uns zu viert treffen!" "Mich will doch eh keine!" brummte er. "Das stimmt nicht!" warf ich dagegen. "Doch! Stimmt eben schon! Schau mich doch an. Schau meine Flügel an, meinen dünnen Oberkörper. Mein Gesicht ist einfach nur hässlich...!" Er brach ab und musste schlucken. Liebevoll sagte ich: "Du bist innerlich so schön, Willi. Du bist die schönste Fledermaus, die ich jemals getroffen habe. Du hast eine wahnsinnige Ausstrahlung, wenn du lachst. Es hat mich immer glücklich gemacht." Willi sah mich an und ich bemerkte, daß ihm eine Träne die Wange hinunterlief und vom Barthaar auf den Boden tropfte. "Und warum siehst das nur du?" fragte er mit erstickter Stimme. "Ich hab es auch erst gesehen, als wir durch den Mond zusammen verbunden waren. Du musst den Mädchen die Chance geben, dich kennen zu lernen." Er nickte und zuckte dann mit den Schultern. "Könntest du dich in mich verlieben?" fragte er dann und fügte nach: "Sei bitte ganz ehrlich!" Und ich war ganz ehrlich: "Nein, ich glaube nicht. Aber das liegt ganz bestimmt nicht an Deinem Aussehen. Ich habe mich schon öfter gefragt, warum ich mich nicht in dich verlieben kann. Und mein Gefühl hat mir jedes Mal gesagt, daß wir für die Liebe einfach nicht zusammengehören. Wir haben uns getroffen, um voneinander zu lernen. Um uns gegenseitig ganz viel mit auf den weiteren Lebensweg zu geben. Eine Beziehung würde das ganze zerstören."
"Es klingt schön, wie du das sagst." Er sah mir direkt in die Augen. "Und irgendwie geht es mir ja genauso. Ich bin auch nicht in dich verliebt. Und du hast mir gerade erklärt, was ich schon seit langem fühle und nicht deuten konnte." "Siehst du, wir lernen voneinander!" stellte ich fest. Er nickte. "Und du glaubst wirklich, da gibt es irgendwo ein Fledermausmädchen, das mich so mag, wie ich bin?" "Da bin ich mir sicher", nickte ich. "Und wenn deine innere Haltung und Einstellung so ist, daß du es wirklich willst, wirst du sie treffen. Und es wird sämtliche Deiner Erwartungen übertreffen!" Sein Gesicht erhellte sich ein bisschen. "Und was ist mit dir?" fragte er dann. "Warum hat es bei dir bisher nicht geklappt?" Ich zuckte mit den Schultern. "Ich hab wohl irgendwas in meiner Kindheit erlebt, das mich Angst haben lässt, vor zuviel Nähe. Hab die Jungs nie an mich rangelassen. Denn da wären schon ein paar gewesen, die was von mir gewollt hätten."
Willi sah mich ratlos an. Dann nahm er meinen Flügel in seinen: "Schick mir diese Angst. Ich werde sie aufnehmen und umwandeln. Sie soll dir nicht das nehmen, was du dir am meisten wünschst. Ich werde sie umwandeln in positive Energie. Diese Energie soll dir helfen, damit du der Angst ins Auge blicken kannst. Damit du dich ihr stellen kannst. Und am Ende wirst du sie besiegen!"
Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter, denn ich wusste plötzlich, daß er das, was er da sagte, wirklich konnte. Ich schloss meine Augen. Sah diese lähmende Angst vor mir, und sah wie sie aus meinem Körper durch meinen Flügel in seinen floss. Als ich fertig war, öffnete ich die Augen. Willi sah mich an. "Alles draußen?" Ich nickte. "Gut, dann wandele ich sie jetzt um. Sie wird dir ganz viel Kraft geben!" Er schloss die Augen. Nach einer Weile sagte er: "Ok, ich schicke es dir jetzt zurück!" Kaum hatte er zu Ende gesprochen, meinte ich zu fühlen, daß mein Flügel kribbelte. Kurz darauf vibrierte mein ganzer Körper, durchdrungen von solch positiver Energie, die ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Ich ließ dieses Gefühl einen Augenblick auf mich wirken. Als Willi die Augen wieder öffnete, war irgendwie nichts mehr so wie vorher. Wir saßen zwar immer noch nebeneinander auf der Wiese, die Vögel zwitscherten noch, aber irgendetwas war anders. Ich merkte, wie ein Gefühl in mir hoch kroch, und sich in meinem Körper breit machte. Zuerst versuchte ich, das Gefühl zu verdrängen, aber es war bereits so stark da, daß ich keine Chance mehr hatte, mich dagegen zu wehren. Willi hielt noch immer meine Hand, und das löste 1000 Schmetterlinge in meinem Bauch aus, die nun wild umherflatterten. Was war nur geschehen in dieser kurzen Zeit, als er meine Angst in positive Energie umwandelte?
Willi sah mich nur an. Ihn schien die Situation genauso zu überraschen, wie mich. Und plötzlich kam sein Gesicht dem meinem immer näher, bis sich unsere Lippen berührten. Es war mein erster Kuss und ich bemerkte zu meiner Überraschung, daß ich keinerlei Angst davor hatte. Im Gegenteil, ich fragte mich sogar, warum wir das nicht schon viel früher gemacht hatten. Wir küssten uns nur ganz kurz. Wohl um zu sehen, wie der andere auf die neue Situation reagierte. Und als wir beide in unseren Gesichtern nichts als Liebe lesen konnten, fielen wir uns in die Flügel, küssten uns, wälzten uns abwechselnd lachend und weinend über den Boden! Schrieen und kreischten, sangen aus vollem Herzen! Dankten Gott für dieses Gefühl! Lebten!
Ein paar Tage später redeten wir drüber, wie es wohl zu diesem plötzlichen Gefühlsumschwung gekommen war: Ich hatte ja zu ihm gesagt, daß ich eine Beziehung nicht wollen würde, weil sie unsere Freundschaft zerstören würde. Erzählte ihm im gleichen Atemzug, daß seine innere Einstellung und Haltung wohl noch nicht richtig wäre um eine Beziehung einzugehen. Und das war mein Problem in Wirklichkeit auch. Meine Einstellung wurde von der Angst, die ich hatte blockiert. Ja, ich schob mir selbst die Angst vor, um ja nicht in die Gelegenheit zu kommen, mich ihr zu stellen. Er hatte Angst, verlassen zu werden, schob das auf sein Aussehen. Und als er mir vorschlug, meine Angst umzuwandeln um mir zu helfen, veränderte sich seine Einstellung, denn er gönnte mir den Freund nun wirklich. Wusste, er musste verlassen und loslassen, um lieben zu können! Ich ließ mich in diesem Moment auf ihn ein, stellte mich meiner Angst. Lernte in wenigen Augenblicken, sie positiv für mich zu verwenden. Und schon war sie möglich, die Liebe!

P.S. Wir schlafen mittlerweile beide wieder hängend nebeneinander in unserem eigenen kleinen Baum. Denn das "Nicht-mehr-längen-lassen" hat nur noch eine symbolische Funktion in unserem Leben. Und hängt doch mal einer durch, ist das gar nicht so schlimm. Denn wir wissen, wie wir uns wieder hochziehen können, um wieder mit beiden Beinen im Leben zu "stehen". Denn ein wunderbarer Morgen hat es uns gezeigt!