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Brigitte Hieronimus

Eingezwängtes Glück


Ich tu das nur für euch, sagt Mutter
und geht wie immer, mittags aus dem Haus. Sabine sitzt am Tisch und kann nicht essen, es würgt im Hals. Fettaugen setzen sich am Tellerrand ab und starren sie an.
Pass auf die Jungens auf, sagt Mutter, und achte darauf, dass die Nachbarn nicht hören, wenn Vater nach Hause kommt. Schließ ihm die Tür auf, er findet das Schloss ja nicht, wenn er was getrunken hat, und mach ihm ein Omelett.
Ich muss jetzt los, sagt sie und stöckelt davon.
Sabine hört ihre Schritte bis zur Bushaltestelle.
Mutter mag es nicht, wenn Tränen in den Teller tropfen.
Ihre Brüder hüpfen vergnügt von einem Bein aufs andere. Sabine nimmt den Kleinsten auf den Schoß und gibt ihm einen Kuss. Der größere zupft an ihrem Rock. Ich komm ja schon, seufzt Sabine und geht mit ihnen in den Garten.
Mittagslicht liegt auf den Reihenhäusern, die wie auf einer Wäscheleine aneinander geklammert sind. Keine Lücke. Kein Baum. Kein Nichts. Niemand zu sehen. Die anderen Mütter sitzen jetzt bestimmt mit ihren Kindern am Tisch. Vielleicht spülen sie das Geschirr und die Töchter trocknen ab. Vielleicht liegen sie auf dem Sofa und ruhen sich aus, während das Radio leise spielt. Wahrscheinlich machen sie mit ihren Kindern Hausaufgaben und gehen danach ein Eis essen, oder ins Schwimmbad, oder neue Schuhe kaufen.
Sabine schaut zu, wie ihre Brüder herumtollen. Das Nachbarfenster zur linken wird geräuschvoll geschlossen. Am Nachbarfenster zur rechten wird leise das Rollo heruntergelassen. Ein Hund kläfft. Es riecht nach Hühnersuppe.

Am Nachmittag kommt Rita, ihre Freundin, die keine Geschwister hat. Sie kümmert sich um ihre Brüder, während Sabine schnell ihre Schularbeiten macht. Mathe kapiert sie nicht, das große Einmaleins hat sie nie richtig gelernt, weil niemand da war, sie abzufragen. Sie bekam immer eine Fünf dafür. Deutsch liegt ihr schon eher, aber heute kann sie sich nicht konzentrieren. Ein Aufsatz über den Sommer. Was macht ihr im Sommer?, fragte die Lehrerin und schaute erwartungsvoll in die Klasse. Der beste Aufsatz wird vorgelesen, also strengt euch an!
Sabine macht das, was sie im Frühling, im Herbst und im Winter tut. Auf die Kleinen aufpassen, sich um Vater kümmern und auf Mutter warten. Dazwischen zwängt sich das kleine Glück. Wenn Mutter am Abend von der Arbeit heim kommt, sie lobt, weil die Küche so fein aufgeräumt ist, ihr Pommes mitbringt, oder ein neues Buch. Sabine liest für ihr Leben gern. Mutter weiß das, sie vergisst es nur immer wieder. Sonntagmorgen ist ihre liebste Lesezeit, da verkriecht sie sich in die Sofaecke und vergisst die Welt um sich herum. Bis Vater aufsteht und sie das Buch verstecken muss. Hast du nicht Gescheiteres zu tun?, raunzt er sie an und geht ins Bad, um sich zu rasieren. Vater hasst es, früh morgens aufzustehen. Tagschicht ist nicht seine Schicht. Sonntags schon gar nicht. Er sprüht vor schlechter Laune, während Mutter eifrig um ihn herum wuselt.
Sabine klappt das Schreibheft zu und geht in den Garten zu Rita, die immer noch mit den Kleinen spielt. Der Nachbar zur linken mäht den Rasen und seine Frau fegt in gebückter Haltung hinter ihm her. Der Nachbar zur Rechten streicht pfeifend den Gartenzaun, während seine Frau ein Schwätzchen mit der Nachbarin von gegenüber hält.
Das ist die, die sich wie ein Flittchen anmalt, sagt Mutter, wenn sie die nur von weitem sieht. Was ist ein Flittchen, fragt Sabine und erhält keine Antwort, sieht nur Mutters verächtlich herabgezogene Mundwinkel. Die Nachbarin da, die lässt ihre Kinder verwahrlosen, bei denen sieht es aus wie in einem Saustall, kein Wunder, die verdient ihr Geld als Kellnerin in einem billigen Tanzschuppen, erklärt Mutter, ohne dass Sabine gefragt hat. Woher sie das weiß, ist Sabine ein Rätsel, hat Mutter doch nie auch nur einen Schritt in die Wohnung dieser Frau gesetzt. Kinder sich selbst überlassen, ist verwerflich. Sie selbst haben nicht das geringste damit zu tun.
Die Nachbarn zur linken und zur rechten haben keine Kinder. Wir sind nun mal kinderreich, behauptet Mutter, deshalb muss ich arbeiten gehen. Ich tu das wirklich nur für euch und damit wir das Haus halten können, ihr im eigenen Garten spielen könnt und uns keine Mieter auf dem Kopf herumtanzen. Viel lieber würde ich bei euch bleiben.
Sabine versteht das. Mutter würde sie nie belügen. Komisch ist, dass Vater nicht will, dass sie arbeiten geht. Du wirfst das Geld mit vollen Händen zum Fenster raus, wirft er ihr vor, dein Kleiderschrank platzt aus allen Nähten, und warum willst du schon wieder neue Gardinen? Bleib zu Hause, da hast du genug zu tun. Dann hör du erst mal auf, Karten zu spielen, gibt sie ihm schnippisch zurück und dreht sich Lockenwickler ins blondierte Haar.

Wenn die Straßenlaternen angehen, muss Rita nach Hause. Vorher badet sie Sabines Brüder in der Spüle, die mächtig viel Spaß mit ihr haben, während Sabine Pudding anrührt. An der Haustür verabschieden sie sich schweren Herzens voneinander. Ach wären sie doch Schwestern. Dann wäre niemand von ihnen so allein mit sich.
Sabine bringt die Kleinen zu Bett und liest Geschichten vor. Wangen glänzen wie Nikolausäpfel. Augen leuchten wie Sterne. Die Haut duftet nach Seife und sie vergräbt die Nase ins frisch gewaschene Haar ihrer Brüder, dann deckt sie die beiden sorgfältig zu und schmiegt sich ein letztes Mal an sie, holt sich wie immer ihre tägliche Ration Geschwisterglück. Zusammen bilden sie ein lachendes Dreieck. Bevor sie sich im Bad die Zähne putzt, stellt sie Pfanne und Eier bereit, deckt den Küchentisch und holt eine Flasche Bier aus dem Keller.
Mutter hat versprochen, pünktlich zu Hause zu sein und keine Überstunden zu machen. Vielleicht ist sie ja vor Vater da. Sabine will eigentlich zu Bett und endlich ihr Lieblingsbuch zu Ende lesen. Mutter sagt aber, sie muss sich unter allen Umständen vernünftig benehmen und ihre Interessen zurück stellen, bis sie da ist. Sie täte das schließlich auch. Also will sie vernünftig sein, denn wenn sie vernünftig ist, hat Mutter sie lieb.
Eigentlich hat sie Hunger, doch sobald sie ans Essen denkt, krampft sich ihr Magen zusammen. Also geht sie ohne Essen und ohne Buch zu Bett, zieht die Decke über die Ohren und wartet. Nach einer Stunde kommt der Bus. Spätschicht rieselt aus Mutters Schritten.
Sabine hört den Schlüssel in der Haustür.
Ihr schmächtiger Körper kann sich entspannen.
Sabines Glück ist perfekt.



Brigitte Hieronimus
Schriftstellerin und Autorin
Seminarleiterin für Wechseljahre
Beratung und Coaching

www.brigitte-hieronimus.de