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Dorothee Sachinian

Epidaurus


Zeitig nach der Mittagsruhe losgefahren, sitzen wir zu sechst im immer noch kochenden Auto.
Lieber wäre ich jetzt im Ferienappartment, was ungefähr halb so heiß ist, doch heute wollen wir uns Epidaurus mit seinem antiken Theater ansehen.
Da unser Feriendomizil in der Nähe von Korinth liegt und wir nicht wissen, wie die Straße sein wird, aber genau wissen, dass wir Kilometer fressen müssen, quälen wir uns hinaus in die Hitze des frühen Nachmittags.
Die Klimaanlage des Wagens arbeitet fleißig, doch es dauert, bis wir eine halbwegs angenehme Temperatur haben. Als wir sie von innen befühlen, merken wir, dass die Scheiben immer noch glühen. Wir sind auf einer kurvigen und teilweise sehr engen Straße, die sich durch Wildnis von Ort zu Ort schlängelt. Zunächst fahren wir in Richtung Nemea.
Hier, im Wald kämpfte der tapfere Herakles mit dem Nemeischen Löwen!
Er, der der Raserei verfallen war und seine Frau und seine Kinder umbrachte, obwohl er sie innig liebte, sollte diese Strafarbeit verrichten. Vom König wurde sie ihm auferlegt. Nun wartete er hier im Wald auf die Ankunft des unsterblichen Löwen, einer Bestie.
Der schlaue Held versteckte sich in einem Dornenbusch,um seine Pfeile auf das blutverschmierte Untier abzuschießen. Doch die Geschenke Apollons prallten von dem undurchdringlichen Fell ab und der Löwe, so auf Herakles aufmerksam geworden, setzte zum Angriff an.
Mit unbändiger Stärke riss Herakles einen ganzen Olivenholzstamm aus dem Erdreich und schlug so lange auf seinen Gegner ein, bis dieser taumelte. Mit aller Kraft umfasste er dessen Hals und erwürgte ihn schließlich! Das Fell war so dicht und undurchdringlich, dass er kein Werkzeug finden konnte, um das Fell abzuziehen und es dem König Eurystheus zu überbringen.
Schließlich schnitt er es mit den Krallen des Löwen selbst an und zog es ab. Das Werk war vollbracht.
Diesen schönen jungen Helden hätte ich gern einmal kennen gelernt, während mir die Begegnung mit der Bestie zum Glück erspart bleibt. Aus meinen Gedanken werde ich durch das unebene Pflaster gerüttelt. In der Ferne liegt Mykenae, die Stadt, welche ihre Gründung dem Halbgott Perseus verdankt.
Der Sohn des Zeus und der Danae soll zusammen mit einem Zyklopen aus Lykien die Burg mit ihren dicken, zyklopischen Mauern errichtet haben. Da bis heute nicht bekannt ist, wie diese riesigen Mauersteine transportiert und in der Befestigung verbaut wurden, hätte es mich interessiert, diese Gemeinschaftsarbeit einmal beobachtet zu haben!
Große Helden wie Agamemnon und Orestes sind mit der Geschichte dieser Stadt verbunden.
Ihr Vorfahre war König Atreus, der dieser Stadt und seinem Volk ein gerechter König war.
Doch durch die Feindschaft mit seinem Bruder Thyestes wurden die Nachkommen mit einem Fluch belegt:
Es begann damit, dass Atreus eine wunderschöne Frau namens Aerope hatte, die Tochter des Königs Katreus von Kreta. Er hatte sie zunächst als Sklavin gekauft. Doch von Liebe entflammt, nahm er sie bald zur Frau. Aerope verliebte sich jedoch in ihren Schwager Thyestes.
Es passierten unzählige Morde als Folge der Fehden, welche sich daraufhin entspannen. Eine wahrlich traurige Familiengeschichte...
Da!
Mein Mann hält so schnell wie möglich an und lässt, als die hinter uns stehenden Autos vorbei gefahren sind, den Wagen auf der Straße etwas rückwärts rollen.
Als wir wieder stehen, sehen wir direkt an der Straße die Reste eines kleinen Bauwerks, vermutlich einer kleinen Brücke.
Unter ihr stehen wir jetzt in dem völlig mit Steinen zugeschütteten Flussbett.
Als Menschen diese Brücke vor einigen tausend Jahren nutzten, plätscherte hier ein Flüsschen.
In dem klaren Nass wuchsen Wasserpflanzen, kleine Fische schwammen gegen die Strömung. Die Sonne spiegelte sich wider in dem unregelmäßig über die Steine rinnenden, murmelnden Wasser. Dieses kleine Bauwerk trug Kinder über den Bach, die sich beim Spielen die Füße nicht nass machen wollten.

Der Marktschreier mit seinem vollbepackten Eselchen nutzte diese Brücke genauso, wie die kichernden jungen Mädchen auf ihrem Spaziergang, gepflückte Blumen in der Hand.
Ein schönes Bild, von dem ich mich losreiße, weil wir weiter fahren wollen.
Jetzt ist die Ruine fast vollkommen verschüttet – eine Folge der Arbeiten an dieser Straße.
Ohne diese kämen wir heute allerdings nicht mehr an unser Ziel. Wir steigen ein und setzen unseren Weg auf der hügeligen Straße fort.
In der Ferne erblicken wir Argos.
Vor über 4000 Jahren kam der stolze König Danaos mit seinen 50 schönen Töchtern in die Argolis und ließ sich hier nieder. Er kam aus Libyen, weil er sich mit seinem Zwillingsbruder Aigyptos zerstritten hatte. Die Danaiden verdrängten die Pelasger, welche bis dahin diese Gegend bevölkerten. Wir lassen diese Stadt bald hinter uns, in der König Pheidon im 7. Jahrhundert vor Christi Geburt als erster das Geld eingeführt haben soll.Wir fahren westlich des Argolischen Golfes weiter in Richtung Süden. Rechts von uns verläuft der Parnass, ein beeindruckender Gebirgszug! Bei Lykoreia liegt am Südabhang eine dem Pan und den Nymphen geweihte Grotte.
Apollon von Delphi und Dionysos sind die Gottheiten des Parnass. Ihnen zu Ehren schwärmen die Thyiaden, Nymphen, alle zwei Winter in den Höhen des Gebirges. Sie ziehen mit in dem orgiastischen Zug des Dionysos, dem Gott des Weins und der Ekstase. Begleitet und gefolgt von Silenen und Satyrn schützt er die Fruchtbarkeit. Die Silene, mit auffälligen Stupsnasen, dem Schwanz und Ohren von Pferden ausgestattet, jagen mit Vorliebe Nymphen.
Diese zarten Wesen waren einem Liebesabenteuer mit Mensch oder Gottheit nicht abgeneigt und spielten mit den glatzköpfigen, dickbäuchigen Gesellen, welche nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck hinterließen. Auch die Satyrn hatten es auf jedes weibliche Wesen abgesehen. Ihre Lüsternheit ist legendär. Mit Spitzohren, Pferdefüßen und kleinen Hörnern in wildem, lockigem Haar stehen sie für die hemmungslose Fruchtbarkeit der ungebändigten Natur. So mancher Spross, halb Mensch, halb Gott erblickte nach solchen
den Gottheiten geweihten Umzügen das Licht der Welt.
"Mama, da ist Epidaurus!"
Ich werde aus meinem Tagtraum gerissen.
Dionysos, Silene, Satyrn und Nymphen, sie alle verschwinden. Ziehen weiter in ihrer Prozession, ohne mich...
Wir stellen das Auto im Schatten ab und strecken uns erst einmal. Die Fahrt war anstrengend: kurvig und heiß. Es wundert mich, dass bei den Kindern der Magen nicht aufgegeben hat.
Das Theater liegt mitten in die hügelige Landschaft eingebettet. Über den obersten Sitzreihen wachsen Bäume, deren jetzt bereits länger werdende Schatten sich über das oberste Drittel aller Sitzplätze legen. Viele Leute gibt es nicht, die in dieser Hitze das Theater bewundern und so sind wir, außer einem Pärchen, das gerade an einer Seite die Ränge erklimmt, die einzigen Bewunderer. Auch mich zieht es nach oben. Auf den höchsten Sitzplatz will ich mich setzen, um zu erfahren, was dran ist an der Geschichte, die ich über die Akustik hier hörte. Man soll, selbst oben auf den obersten Sitzen, noch eine Stecknadel fallen hören. Klar, das mit der Stecknadel wird eine maßlose Übertreibung sein, doch wie ist das mit dem Flüstern? Ein paar Reihen oberhalb des breiten Absatzes sitze ich ziemlich außer Atem in der Sonne, die ich jetzt im Rücken habe. Mein Mann sitzt unten und die Kinder springen in der Orchestra herum,
hinter ihnen steinerne Reste eines rechteckigen Baus, dem Bühnenhaus. In dessen Fassaden eingelassen waren einmal hölzerne Wendetafeln, das Bühnenbild. Da ich die Kinder jetzt nicht für unseren Versuch zum Schweigen bringe, sitze ich einfach nur da und lasse alles auf mich wirken. Hinter der Bühne stehen riesige Bäume und man hat einen wunderbaren Blick auf die umliegende Landschaft. Es dämmert und wird immer dunkler. Fackeln stehen rund um die Bühne. Unten in der ersten Reihe stehen die Marmorsitze mit den Rückenlehnen, auf welchen die illustren Ehrengäste sitzen. Ein Husten und Raunen, oft halblaute Gespräche erklingen – als säßen die Sprecher direkt neben mir. Die Schauspieler hüpfen in der Orchestra herum.
Allesamt Männer mit Masken, Perücken und verschiedenen Gewändern. Durch verstellte Stimmen, witzige Sprachmelodie und weit ausholende Gestik werden Männer- und Frauenrollen dieser antiken Komödie erkennbar, in welcher es sehr deftig zugeht. Doch hier im Publikum geht es inzwischen ebenfalls hoch her.
Ein junger Mann hinter mir springt auf und wirft ein paar Olivensteine nach unten zur Bühne, weil ihm die Darstellung einer Dame nicht gefällt. Er versucht lautstark, es besser zu machen und wird, ebenso lautstark, vom ihn umgebenden Publikum an seinem Mantel wieder auf den Sitz zurückgezogen. Jeder hat einen Kommentar für das Stück übrig. Viele kennen es schon, korrigieren die Schauspieler oder machen zotige Zwischenrufe. Das Theaterstück ist zu Ende.
Ein langer Applaus hallt von den Zuschauerreihen herab. Von der abschließenden Darbietung des Chores ist nicht viel zu hören.
Ich erhebe mich, lege meinen Zeigefinger an die Lippen und sage:
"Pssst!"
Absolute Ruhe.
Von unten her höre ich Flüstern. Jedes einzelne Wort verstehe ich.
Ich lächle und gehe die vielen Stufen wieder nach unten, die ich gerade erklommen habe.
Jedes der Kinder bekommt ein Küsschen für seinen Satz:
"Ich hab Dich lieb, Mama!"
Wir packen unsere Schauspieler wieder in unser Auto und machen uns auf den Rückweg.