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Helga Braun

Die Isomerisierung der Farben


Annette trat einen Schritt von der Staffelei zurück, schaute prüfend auf das Gemälde, setzte einen letzten Farbtupfer auf. Fertig!

Neun Monate lang hatte sie mit den neuen ionisierenden Farben herumexperimentiert. Durch ihren Vertrauensposten hatte sie Zugang zur Regierungswerkstatt. So konnte sie nach und nach ein paar Farbtuben hinausschmuggeln.

Die "Strahlungsbilder" der Regierung übten eine große Faszination auf das Volk aus. Es gab die "Stimmungsheber", die "Kritikdämpfer", die "Meinungsumformer", die "Schlafbringer", die "Entspanner" und viele andere Manipulationsbilder.

Mit der Isomerisierung der Farben hatte für Annette ein geheimnisvolles Doppelleben begonnen.

Schon, als die Farben in ihre Hand gelangten, wusste sie, sie würde etwas schaffen, was weit über die Vorhaben der Regierung hinausging.

Annette war ein sehr gefügiges Kind gewesen. Widerspruchslos hatte sie sich in eine freudlose Kindheit und Jugend geschickt, ohne nennenswerte Kontakte neben der Schule.

"Sie ruinieren mir meine schöne Wohnung, deine schmutzigen Freundinnen und Freunde. In ihren langen Haaren nisten eines Tages noch die Läuse. Von Höflichkeit und Anstand haben sie sowieso nie etwas gehört", sagte die Mutter.

Später warnte sie: "Hüte dich vor den Männern, Annette. Sie wollen nur das eine, Sex und immer wieder Sex. Pass auf dich auf, Kind! Lass nie einen Mann zu nahe an dich herankommen. Du lernst das alles noch früh genug kennen, wenn du erst verheiratet bist."

Über den frühverstorbenen Vater und Männer im allgemeinen hatte sie ihr dann noch widerliche Einzelheiten erzählt, bei denen Annette sich vor Scham zusammenkrampfte.

Von den Erlebnissen der Schulkameradinnen wollte Annette nichts wissen. Lieber galt sie als uninteressante Außenseiterin. Nein, sie wollte nicht stundenlang über Jungen schwatzen, auf Anrufe warten, von klebrigen Fingern betatscht werden, sich auf Autositzen herumdrücken und sich gegen Zudringlichkeiten wehren müssen.

Eines Tages hatte die Mutter ihr Rainer vorgestellt.

"Das ist der richtige Mann für dich. Er ist kein dummer Junge mehr, und er hat eine ausgezeichnete Position im Ministerium. Nie braucht er Überstunden zu machen, ist deshalb keinesfalls überarbeitet. Er kann viele eurer privaten Dinge im Büro erledigen und erhält später eine sehr gute Pension. Braucht ihr einen Arzt, werdet ihr als Privatpatienten bevorzugt. Rainers Charakter ist tadellos. Fast sein ganzes Gehalt spart er, statt es für unnütze Dinge zu verplempern. Dazu ist er häuslich. Rainers Mutter, die bei mir im Bridgeclub ist, schwärmt mir schon seit Jahren etwas von ihm vor."

Annette hatte sich wieder einmal gefügt. Zaghafte Widersprüche wurden von der Mutter überhört. Rainer und Annette heirateten. Der gesamte Bridgeclub war eingeladen. Obwohl dort strikte Höflichkeitsregeln gelten sollten, wunderte sich Annette, wie hinterrücks über jedes einzelne Mitglied hergezogen und geklatscht wurde. Aber ihr war das egal. Sie würde sowieso nie einem Club angehören.

Seit zehn Jahren lebte sie nun mit Rainer. Nie hatte es Höhen oder Tiefen in ihrer Beziehung gegeben. Rainer ordnete an, und sie tat das, was er wollte. Sie war es gewöhnt, sich anzupassen, bei der Mutter, den Arbeitskollegen, den Vorgesetzten.

Im Bett stellte Rainer zu ihrer großen Erleichterung nur bescheidene Ansprüche. Nach dem ersten Schock in der Hochzeitsnacht konnte Annette ihren Pflichten ohne allzu großen Widerwillen nachkommen. Stets wusch Rainer gewissenhaft seinen Penis vor dem Geschlechtsakt, war überhaupt von penibler Sauberkeit. Orgasmen verschaffte sich Annette allein, notfalls mit Hilfe eines Vibrators. In ihren Phantasien wechselte sie die Männer wie ihre Dessous.

Dabei sah Rainer nicht übel aus. Er war schlank, hatte ein schmales, intelligent blickendes Gesicht. Nur seine Angewohnheit, die Oberlippe wie ein Kaninchen hochzuziehen und dabei durch die Nase leise zu schnüffeln – er tat dies nur zu Hause, wo er sich gehen lassen konnte – störte sie.

Seit einem Jahr jedoch war mit Rainer eine große Veränderung vorgegangen. Bei einer Feier für ausländische Staatsgäste hatte er sich sexstimulierende Gemälde angesehen, seitdem war er wie umgewandelt. Sowie er aus dem Büro kam, zog er Annette auf die Liege oder sogar auf den Teppich oder Küchentisch, liebte sie heftig und ausdauernd, schlang das Essen in sich hinein und verlangte schon wieder nach Sex. Zweimal musste der Arzt gerufen werden, weil Rainer unbedingt im Stehen vögeln wollte und sein Schwanz dabei umknickte. Die Heilung dauerte zu Annettes Leidwesen nur wenige Wochen. Ein anderes Mal musste der Schlosser kommen, weil Rainer die Schlüssel zu den Handfesseln verlegt hatte.

In seinem Schreibtisch tauchten Pornohefte auf. Eine Arbeitskollegin erzählte Annette, sie habe Rainer ein paarmal aus einem Pornokino kommen sehen, weit schlimmer noch, aus einem Etablissement, in dem gefällige Damen schon um die Mittagszeit oder noch früher bereitwillig ihre Dienste anboten, natürlich gegen hohes Entgelt.

Annette tat es nicht nur um die Kosten für Rainers Laster leid, sie begann sich vor ihrem Mann zu ekeln. Er roch nach fremden Frauen, bildete sie sich ein. Wer weiß, was er sich noch bei ihnen holen würde. So dumm wie zu Anfang ihrer Ehe war sie schließlich nicht mehr. Wenn er sie wenigstens unbehelligt ließe, dann würde sie ihm seine kostspieligen Ausflüge gönnen. Aber Rainer bedrängte sie von Tag zu Tag heftiger, nicht einmal nachts ließ er sie in Ruhe. Wenn ihn die Lust überfiel, wollte er sein Vergnügen haben. Seine Wünsche dafür wurden immer ausgefallener. Erst handelte es sich um Reizwäsche, die er ihr mitbrachte, Strapse, high heels, die sie im Bett anbehalten sollte, dann schließlich sollte sie unbequeme enge Latex- oder Lederbekleidung anziehen, eine Peitsche schwingen. Das Auspeitschen von Rainer bereitete Annette sogar eine gewisse Freude, konnte sie damit doch einen Teil ihrer Wut auf ihn abbauen. Gegen den Keuschheitsgürtel, den Rainer ihr bei seinen Sado-Maso-Spielen anlegen wollte und gegen die Gesichtsmaske wehrte sich Annette jedoch mit Erfolg.

Annette brauchte seit kurzem nur seinen nackten Oberkörper anzusehen, schon wurde ihr übel. Wenn er sie mit den Fingerspitzen berührte, versteinerte sie.

Die einzige Ablenkung fand sie in der Beschäftigung mit den neuen Farben.

Sehr wenige Experten kannten das Geheimnis der Mischungen. Die Formeln waren in einbruchs- und feuersicheren Tresoren verwahrt, von Alarmanlagen geschützt. Annette hatte freien Zugang, man misstraute ihr nicht. Mit einem winzigen Fotoapparat hatte sie sich in den Besitz der Formeln gebracht.

Dank des angeeigneten Wissens hatte sie mit den gestohlenen Farben mehrere Monate lang täglich einige Stunden auf dem Dachboden ihres Hauses experimentiert. Rainer ahnte nichts davon. Wenn er neuerdings erst spät gegen 20 Uhr nach Hause kam, war das Essen fertig – sein Leibgericht waren Reibeplätzchen – die Wohnung aufgeräumt, jede Spur ihrer Tätigkeit verwischt.

Heute abend würde Annettes Mutter zu Besuch kommen. Es war Donnerstag, da erschien sie immer unaufgefordert. An ihr wollte Annette ausprobieren, ob ihre Arbeit von Erfolg gekrönt war.

Als die Mutter klingelte, hing das neue Gemälde bereits an der Wand. "Wieder etwas Neues", wollte die Mutter gerade nörgeln – sie hasste Annettes "nutzloses" Hobby – als ein sanftes Lächeln über ihre Züge glitt.

"Wie schön, Annette!"

Bisher hatte die Mutter noch nie ein Produkt von ihr gelobt, sie fand immer etwas auszusetzen.

Annette atmete auf, zündete sich eine Zigarette an. Die Mutter widersprach meist:

"Du weißt doch, daß ich gegen Zigarettenrauch allergisch bin!"

Diesmal rückte ihr die Mutter den Aschenbecher zurecht.

Einige Zeit später eilte sie in die Küche, wollte das das Abendbrot zubereiten.

"Ich habe mich ein halbes Leben lang um dich gekümmert und mich genug für dich aufgeopfert", pflegte sie sonst zu sagen, "nun kannst du etwas für mich tun!"

Heute befahl sie: "Kind, bleib sitzen, ruh dich aus!"

Annette klopfte das Herz bis zum Halse. Das Bild zeigte seine magische Wirkung auf die Mutter. Wie würde Rainer reagieren? Rainer, der erwartete, dass sie jeden Abend mit freundlichem Gesicht am Türeingang stand, um ihn zu bewillkommnen. Sein Schlüsselbund benutzte er seit Jahren nicht mehr. "Wozu habe ich eine Frau?" scherzte er vor Arbeitskollegen.

Annette blieb sitzen, als es klingelte. Sie rührte sich nicht vom Fleck.

Es dauerte fast zwei Minuten, bis ihr Mann aufgeschlossen hatte. Sein verdrossenes Gesicht sprach Bände, als er ins Zimmer kam. Annette bog den Kopf zur Seite. Letztens hatte er sie geschlagen, als sie "aufsässig" gewesen war.

Rainer sah das neue Gemälde, stutzte, seine Mienen verklärten sich.

"Du bist ein Genie, Annette!"

Rainer hatte in all den Ehejahren von ihrer Lieblingsbeschäftigung, "dieser brotlosen Kunst", nur unwillig Notiz genommen. "Pure Geldverschwendung, die Leinwand, die teuren Farben, die Pinsel", war sein einziger Kommentar gewesen.

Einträchtig, wie seit langem nicht, aßen sie zusammen und plauderten. Annette entdeckte, wie gut sie die Konversation beherrschte. Warum hatte sie bis heute geschwiegen, nur immer den anderen zugehört? Sie fühlte sich witzig, geistreich, gewandt. Als der Abend fortschritt, schaute sie ab und zu in ihr Handtäschchen, in das sie ein winziges selbstgefertigtes Anti-Zauberbild geklebt hatte. Nein, sie wollte nicht so werden wie ihre Mutter und Rainer.

Die veränderten sich zusehends, wandelten die Gestalt, schrumpften auf Kleinkindgröße zusammen. Dabei glätteten sich die Gesichter, rundeten sich. Die Haare wurden weich und flaumig, wie bei jungen Kücken oder Enten. Die Arme und Beine zeigten Speckfältchen, zum Hineinbeißen, fand Annette.

Die Mutter verlangte nach ihrer Lieblingspuppe, fing an zu weinen, als sie nicht gefunden wurde. Rainer lutschte heftig am Daumen, ließ sich von Annette füttern und wollte aufs Töpfchen.

Jahrelang hatte Annette in jeden Kinderwagen geblickt. Auf dem Spielplatz konnte sie sich nicht von fremden Kindern trennen. Mutter und Rainer waren gegen Babys gewesen:

"In diesen Zeiten Kinder bekommen, ist Wahnsinn", meinte die Mutter. "Sie machen nur Mühe und Sorgen, auf Dankbarkeit kannst du sowieso nicht rechnen!"

Rainer war der Ansicht: "Sie halten dich von der Arbeit ab, schaffen Unruhe und Unordnung, werden von Jahr zu Jahr teurer im Unterhalt."

"Sing mir ein Schlaflied", bat Rainer.

"Erzähl mir ein Märchen, lass das Licht an", bettelte die Mutter.

"Ihr seid meine guten, braven Kindchen", antwortete Annette. Kinder, die lieb sind und immer nur das tun, was Mutter will, werden belohnt."

Sie mochte beide, wie sie so hilflos, zart und zerbrechlich in ihren Betten lagen. Selbst das Hochziehen der Oberlippe und das Schnüffeln wirkten nun irgendwie rührend an Rainer. Eines Tages würde sie beide sogar lieben, dessen war sie sich ganz sicher. Gewiss würde sie mehr Arbeit haben. Rainers Gehalt würde fortfallen, sie müsste sich einschränken, aber sie würde es schaffen. Sie fühlte sich stark.

Die Gemälde für ihren Arbeitsplatz, die Vorgesetzten, Beamte und Politiker hatte sie vorgestern angefangen, diesmal würde alles viel, viel schneller gehen.



Reibeplätzchen

6 große Kartoffeln und eine mittelgroße Zwiebel schälen
mit einem Küchengerät fein reiben
vor einer Handreibe wird gewarnt, wenn die Finger heil bleiben sollen
in die Masse 1 rohes Ei und einen Esslöffel Mehl mischen
mit Salz und Pfeffer würzen
in der vorgeheizten Pfanne jeweils ca. 4 Reibeplätzchen in bestem Olivenöl knusprig ausbacken
je kleiner der Durchmesser der Reibekuchen, desto leckerer sind sie für Feinschmecker
können heiß, aber auch kalt verspeist werden

Für hungrige Gäste einfach die Menge verdoppeln oder verdreifachen.

Manch einer mag Apfelmus dazu oder geräucherten Lachs und Salat.

Sie schmecken aber auch zu Steaks und Braten.

Als Getränke Saft, Bier oder (Rot)wein.



Stimmungsheber:

Knüpfen Sie Beziehungen zu Regierungsbeamten an.

Scheuen Sie sich nicht vor Bestechung oder einem Beischlaf, um an die ionisierenden Farben zu gelangen.

Malen sie nur in heiterer, ausgelassener Stimmung,

das überträgt sich auf Ihre Gemälde.

Tragen Sie die Farben sparsam auf, damit die Betrachter nicht zu übermütig werden.

Lassen Sie die Tuben nicht in andere Hände gelangen.

Verschenken Sie verkleinerte Kopien der Gemälde für die Wohnungen lästiger Personen und für alle Amtsstuben, die Sie betreten müssen.

Vergessen Sie nicht Ihr eigenes Heim und das Büro Ihres Mannes.

Schmuggeln sie eine Kopie in das HFR- Forum und in dieses Buch.