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Petra Plaum

Reue und Rotweinkuchen


"Mama, was bäckst du da?" Nele stupst mit dem Zeigefinger in den weichen, braunen Teig in der Rührschüssel. "Nichts für dich! Weg da!" gebe ich zurück. Erschrecke über die Schärfe meines Tons, ziehe meine Tochter extra sanft zum Wasserhahn und spüle den Teig von ihrer Hand. Nele protestiert nicht. Wie vernünftig sie ist, denke ich, erstaunlich. Von mir hat sie das nicht. "Probier mal den hier", sage ich betont munter und hebe Nele eine Springform unter die Nase. "Rotweinkuchen ohne Rotwein. Ganz allein für dich". Nele grinst. Die Sommersprossen auf ihrer Nase tanzen. Die Sommersprossen, die sie von ihrem Vater hat. Ihr Vater. . . Mir wird leicht übel. Mein Gewissen oder der Rotwein? Ich atme tief durch. Nur jetzt keine Schwäche zeigen. Ich muss doch funktionieren. Für Nele.
Für sie ist das Leben noch so rund und süß wie meine Kuchen. Sie scheint es nie bitter zu finden, die Wohnorte zu wechseln, alle paar Monate ihre Freundinnen zurücklassen zu müssen. Immer wieder die Stofftiere und Spielsachen in einem neuen Zimmer neu anzuordnen. Im ersten Schuljahr hat meine Tochter schon drei Klassen kennengelernt. Trotzdem hat sie auch hier bereits eine beste Freundin, Ulrike.
"Ruf doch nachher Rike an und lad sie zu deinem Rotweinkuchen ohne Rotwein ein", schlage ich jetzt vor und hoffe, dass Rikes Mutter nicht auf die Idee kommt, mitzukommen. Elsbeth mag mich so wenig wie ich sie. Aber wie könnte ich wählerisch sein, was die Mütter der Spielgefährtinnen meiner Tochter angeht? Ich sollte mich freuen, dass sie überhaupt Anschluss findet! Ich selbst suche noch. Vier Monate in dieser Großstadt und noch immer hab ich keine Freundin. Nicht mal eine gute Bekannte. "Meld dich doch zu einem Volkshochschulkurs an oder im Fitnesscenter", rät Christian mir, wenn ich mal meine Einsamkeit anspreche. Kurse und Fitnesscenter haben mir in den anderen Orten aber auch nichts gebracht. Die drei Freundschaften, die ich in all den Jahren gewann, wuchsen eher zufällig. Katrin traf ich an einer Bushaltestelle in Hildesheim, Hülya im Bioladen in Aachen und Lea aus Bad Saulgau gewährte ich Zuflucht unter meinem Regenschirm. Kaum kannte ich eine so gut, dass wir nicht mehr nur über die Kinder, Sonderangebote und das Wetter redeten, hieß es bei mir auch schon wieder: Kisten packen und umziehen.
Das Umziehen an sich fand ich vor zehn Jahren noch spannend. Jetzt nicht mehr. "Noch ein- oder zweimal, dann richten wir uns fest ein. Bauen ein Haus". Das verspricht Christian seit Ewigkeiten. Statt dessen bauen wir immer wieder neu im Kleinen: Kartons auseinander, Möbel auf. Möbel auseinander, Kartons zusammen, Türme aus Kartons. Dies ist unser vierzehntes Heim in zehn Jahren.
"Mama, Rike kommt nicht. Aber Julia. Um fünf." Nele klettert auf die Küchenbank, schnappt sich ein Kinderbuch und versinkt darin. Wer ist schon wieder Julia? Ich beneide meine Kleine, die sich überall so mühelos einfügt. Mich stört schon die Tatsache, jetzt in einer weißen Billigküche werkeln zu müssen statt in der gemütlichen aus dunklem Holz, die wir zuletzt hatten. Und mich stört das Alleinsein. "Allein mit Nele! Schon wieder!" hab ich Christian angeschrien, als er mir von dem Seminar erzählte. Ich sehe ihn vor mir, wie er die Augen verdreht und die Fäuste ballt. Die personifizierte Genervtheit. "Musst du schon wieder schmollen? Das Seminar in Berlin ist jeden September, das weißt du doch! Du weißt auch, wie wichtig es ist, da hin zu gehen!" Spricht's und reist ab, mein Göttergatte. Ohne mich. "Nach Berlin nimmt doch keiner Ehefrauen mit. Wir haben Kurse bis nachts um elf. Du würdest dich eh nur langweilen". - "Ich könnte mich schon beschäftigen. Bummeln gehen, Essen gehen, mit Nele. Berlin ist eine Reise wert!"
Der Versuch einer Überredung.
Christian schüttelte den Kopf. Sah mich an, als sei ich ein unbelehrbares Schulkind: "Du weißt, das ich nachts schlecht schlafe, wenn Nele bei uns im Zimmer ist. Ihr Schnarchen - du müsstest wirklich mal nach ihren Polypen sehen lassen! Na, und ein weiteres Zimmer in unserem Tagungshotel ist einfach sehr teuer." Seine Stimme klang fest: sein Entschluss war gefallen.
"Ich komm am Sonntag erst gegen elf abends zurück. Nein, für Nele ist das nichts. Aber du kannst doch hier ausgehen und die Stadt erkunden? Nele kommt mit dir oder geht eine Freundin besuchen." Nele entschied sich für die Freundin statt der langweiligen Mutter, die in der Stadt ja doch nur die Buchläden durchstöbert. So fand ich mich auf mich selbst gestellt wieder. Eine Frau allein an einem Samstag Nachmittag. Die Nachbarn waren ausgeflogen, die Sendungen im Fernsehen lausig. Geputzt hatte ich am Freitag schon. Also zog ich mein rotes Sommerkleid an und fuhr in die Stadt.
"Hast du mir in der Stadt was gekauft?" fragt Nele in meine Gedanken. Ich drehe mich zu ihr um. Die weiten, leuchtenden Augen... eigentlich hatte ich das Katzenbuch für Weihnachten versteckt. Doch diesem Blick kann ich nie widerstehen, auch diesmal nicht. "Ich hab dir ein Buch mitgebracht", sage ich, und meine Tochter hüpft ungeduldig auf und ab. Was ich mir selbst mitgebracht habe, kann ich ihr nicht erzählen. Ihr nicht und sonst auch niemandem.
Einen Mann. Keinen Christian, hochgewachsen, elegant, kantig und unnahbar. Einen greifbaren Mann, kaum größer als ich, mit lachenden Augen und lebhafter Gestik. Einen T-Shirt- und Jeansmann, entdeckt in der Buchhandlung, in der ich auch Neles Katzenbuch erstand. "Kennen Sie den schon?" Er hatte sich einfach neben mich gestellt und mit einem Roman vor meinem Gesicht herumgewedelt. An den Titel erinnere ich mich nicht mehr. An das Gefühl schon: Hitze, die vom Bauch her in Richtung Kopf wandert, meine Hände werden feucht. Wann hatte mich zuletzt ein Mann angesprochen und so angesehen? Ich bin ja seit einer Dekade vom Markt! Flirten war auch vorher nie meine Stärke. Dieser Fremde jedoch wollte nicht beflirtet werden, der quasselte einfach auf mich ein. "Sie haben da ein gutes Kinderbuch. Mein Neffe hat alle Bände aus der Reihe. Besonders zu empfehlen ist auch der Hunde-Band..." Schon waren wir mitten in einem Dialog übers Schmökern. "Sie lesen auch gern Jeffrey Eugenides? Ich fand die Selbstmordschwestern ja so traurig." Meine Stimme klang ganz kieksig vor Aufregung. Mit Christian rede ich nie über Bücher. Er studiert seine Fachliteratur, ich meine Romane, und das ist das. "Ist doch blöd, so im Stehen zu diskutieren", meinte der Fremde auf einmal. "Ich heiße übrigens Samuel. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?" Samuel klang irgendwie nett, und auch ich fühlte mich noch nett, als wir zusammen loszogen. Als hätte ich eine Freundin gefunden. Noch ganz ohne Hintergedanken. Arglos wie Nele, die sich jetzt an den Katzenfotos erquickt. "Süüüß, süüüß!" jubelt sie auf jeder neuen Seite. Perserbabies rollen sich um Wollknäuel, ein Kartäuserjunges jagt den eigenen Schwanz. Zwei Siamesen schlafen Seite an Seite, ineinander verflochten. Wie Samuel und ich letzte Nacht. Christian, der rückt jeden Abend ans Ende seiner Matratze und schlummert auf dem Rücken ein, die Arme verschränkt, so weit weg von mir wie möglich. "Ich brauche Platz, Enge stört meinen Schlaf", betont er immer.
Will Nele Nähe, muss ich zu ihr ins Kinderzimmer.
Ein Kind im Bett? Bewahre. Eine Frau - na ja, so lang sie nicht stinkt und nicht schnarcht und keine Decke stiehlt und Christian nicht berührt...
Samuel wollte berührt werden gestern nacht. Und berühren.
Mein Gesicht glüht. Ich flüchte vor Nele, zurück zum Teig. Beuge mich über die Rührschüssel, geh noch mal mit dem Quirl durch meinen Rotweinkuchen in spe. Probiere. Finde ihn gelungen - süß und ein bisschen bitter. Ich lasse immer ein wenig Zucker weg und füge doppelt so viel Zimt und Kakao hinzu wie in Schwiegermutters Originalrezept angegeben. Anders als sie verwende ich nur guten Rotwein. Trockenen. Würzigen. "Schade um das teure Zeug", würde sie mich rügen, könnte sie die Flasche Cabernet Sauvignon erkennen, einen Zehn-Euro-Wein aus Chile. Der Wein hat ja auch phantastisch geschmeckt - wäre Christian nicht so wachsam, wir hätten sicher mehr als eine dreiviertel Flasche geleert. Ich nahm Samuel eigentlich nur mit heim, um ihm ein paar Bücher fürs Wochenende zu leihen. Höfliche Hausfrau, die ich bin, bot ich ihm was zu trinken an. Er wählte den Wein und bestand darauf, dass auch ich welchen nähme. "Hör mal, wie der gluckert", sagte er, als er mir einschenkte. "Eine Melodie. Fuchs du hast die Gans gestohlen". So ein Kindskopf, war mein erster Gedanke. Aber ich lauschte dem "Gluck-gluck" des Rotweins im Glas trotzdem. Samuel hatte Recht. Wir guckten uns an und lachten. Dann sah er mir tief und ernst in die Augen und ich ihm. Als er mir zuprostete, mit den Worten "auf uns", hab ich nicht widersprochen. Bin hinterher in seine Arme gesunken, habe seine Hände erst erduldet und dann genossen und schließlich meine eigenen eingesetzt.
Meine Hände zittern. Ich beschäftige sie jetzt damit, den Ofen zu heizen, Teig in die zweite Form zu gießen, beide Kuchenformen in die Röhre zu schieben. Gut, dass Nele nichts ahnt. Dass für sie die Welt ein friedlicher Platz ist, bevölkert von lieben Menschen und niedlichen Tieren. Krieg, Betrug, Intrigen sind ihr noch fremd. Meine Tochter freut sich über so vieles. Über ihr Buch gebeugt, kichert sie immer und immer wieder. Mir tut ihr Lachen gut und weh zugleich.
Gelacht haben Samuel und ich viel die letzte Nacht. Viel mehr als getrunken oder sonst was gemacht. Natürlich haben wir auch sonst was gemacht... also, mit Wonne und stundenlang dieses Sonstwas, für das Christian jeden zweiten Samstag nach der Sportschau Zeit findet. Nur, dass es mit Christian keine fünf Minuten dauert. Aber das allein war es gar nicht. Sondern Samuels Art, mich anzusehen, mich zu kitzeln, mich mit dummen kleinen Geschichten zum Lachen zu bringen. Samuels geflüsterte Komplimente. Seine Stimme, die leise Liebeslieder für mich sang. Wo ich den Text kannte, stimmte ich ein, und wenn uns beiden nichts mehr einfiel, dichteten wir was Neues. Ich hatte keinen Hunger und war nicht müde und vergaß die Zeit.
Dann entfuhr mir diese Bitte. Es muss bereits Morgen gewesen sein. Vor dem Fenster zwitscherten die Vögel. "Samuel, nimm uns mit", hauchte ich in sein Ohr. "Lass uns gemeinsam neu anfangen, dich, mich und Nele. Wir brauchen nicht viel, sind stubenrein und ganz verschmust." Was hatte ich da gesagt? Ich hielt die Luft an. Draußen sangen die Vögel weiter. Ein Auto fuhr vorbei. Dann hörte ich Samuel langsam einatmen, gemächlich ausatmen. Seine Augen waren geschlossen. "Schläfst du?" fragte ich. Keine Antwort. Also kuschelte ich mich an ihn, machte ebenfalls die Augen zu und tat so, als schliefe auch ich. Samuel schlang irgendwann die Arme um mich, und so lagen wir da. Ich weiß nicht, wie lange.
Dann erwachte Samuel. Warf den verwuschelten Schopf hin und her. Entwand sich meinen Armen. Blinzelte mich schließlich an. Ich versuchte, seinen Blick aufzufangen, konnte aus seinen Augen jedoch nichts lesen. "N' Morgen" murmelte er, fuhr sich zweimal durchs Haar, schlüpfte in seine Jeans und das war's. "Frühstück?" fragte ich noch. Der Fremde an der Tür schüttelte den Kopf. Sein Gesicht sah völlig anders aus als gestern. Ernst. Verschlossen. "Danke für alles. Ich ruf dich an." Hob die Hand zum Gruß, riss die Tür auf und weg war er. Weg, weg mit den Spuren meines Tuns, denke ich, schmeiße die Backutensilien ins Spülwasser. Ein paar Tränen tropfen hinterher. Gestern abend mag ich dumm gewesen sein, heute bin ich klüger. Er wird nicht anrufen, wie auch, wir haben ja eine Geheimnummer. Seinen Nachnamen, seine Adresse hat er mir erst gar nicht hinterlassen. Nur Haare auf dem Kissen, zerknitterte Bettwäsche, zwei ungespülte Weingläser. Nichts, was ich nicht schnell in den Griff bekommen hätte heute Morgen, noch vor Neles Ankunft. Christian schätzt es ohnehin, nach seiner Heimkehr ein frisch bezogenes Bett vorzufinden und eine saubere Wohnung. Eine blitzsaubere Frau obendrein. Ich stand lange unter der Dusche, das Make-up, die Verkleidung sitzen perfekt.
Nun beobachte ich, wie die Kuchen im Backofen aufgehen und versuche, mich auf Christian zu freuen. Auf sein Gesicht, wenn er sieht, was ich für ihn vorbereitet habe. "Meine Frau, die phantastische Bäckerin", wird er rufen, so wie immer, und sich auf seinen Platz fallen lassen. Ich werde das Rosenthal-Gedeck auflegen und ihm, auch wie immer, ein großes Stück aufladen und mir selbst ein kleines, der schlanken Linie wegen. Ich seh uns schon, wie wir einander schweigend gegenübersitzen und Kuchen essen, er nach rechts oben blickend und ich nach links unten. Unser Kauen und Neles leises Schnarchen aus dem Kinderzimmer werden die einzigen Geräusche sein. Und selbst der spitzfindigste Detektiv könnte nicht darauf kommen, dass irgend etwas anders ist als sonst.

Schwiegermamas Rotweinkuchen (Originalrezept)

250 g Butter
250 g Zucker
4 Eier
1 Päckchen Vanillezucker
schaumig rühren
250 g Mehl
1 Päckchen Backin
1 gehäufter Teelöffel Zimt
1 gehäufter Teelöffel Kakao
1/8 Liter Rotwein (für den Kinderkuchen: roter Traubensaft)
150 g Schokostreusel unterrühren
In eine Springform füllen, bei 175 Grad 50 - 60 Minuten backen.
Mit Vollmilchkuvertüre oder Blockschokolade überzogen schmeckt der Kuchen besonders fein!