Das Amtsgericht Hechingen sprach im März 2009 einen 30-Jährigen vom Vorwurf der Vergewaltigung einer 16-Jährigen frei. Er soll im Sommer 2006 das Mädchen in einem Schwimmbad vergewaltigt haben; mit nachfolgender Schwangerschaft.
= Quelle
Ein Kommentar von Monika Gerstendörfer
Der Fall ist wieder einmal typisch.
So fragte man sich, warum die Anzeige erst 2 Jahre danach erfolgte? Dass eine Vergewaltigung ein traumatisches, also ein lebensgefährliches Erlebnis ist und zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) führt, ist hier offensichtlich nicht bekannt gewesen.
Viele Opfer zeigen nie an; auch deshalb, weil sie wissen, was ihnen vor Gericht blüht, die Sache in der Regel wegen der klassischen Aussage-gegen-Aussage-Situation zu einem Freispruch des mutmaßlichen Täters führt.
Sollte ein Opfer sexualisierter Gewalt tatsächlich die Kraft finden, nach Jahren zu reden und gar Anzeige zu erstatten, so kann man dies als „halbes Wunder“ einordnen.
In diesem Fall kommt noch die „Zwangs“-Schwängerung hinzu, die mit Sicherheit zusätzliche traumatische Belastungen verursachte.
Eine Horrorvorstellung!
Opfererleben: „Das passiert jetzt nicht wirklich“
Viele Gewaltüberlebende wollen einfach nur vergessen. Sie ziehen sich vollkommen zurück.
Das Vergessen gelingt langfristig aber nicht. Früher oder später – nicht selten noch nach Jahrzehnten – kommen die traumatisierenden Ereignisse wieder hoch und können zu einem totalen seelischen Kollaps führen; manche Opfer begehen auch nach Jahrzehnten noch Suizid. Das liegt daran, dass sexualisierte Gewalt das Schlimmste ist, was man einem Menschen antun kann. Es ist ein Schwerbrechen, das man nicht mit „Geschlechtsverkehr“ umschreiben darf, weil diese Form der Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat. Weder für den Täter – geschweige denn für das Opfer.
Fragmentierte Erinnerung
Die Rechtfertigungen für den Freispruch sind ebenfalls typisch: So seien die Schilderungen von Täter und Opfer „widersprüchlich“, „nicht schlüssig“ gewesen; es habe „Ungereimtheiten“ gegeben.
Das ist jedoch nur logisch. In einer traumatischen Situation spricht man von sog. fragmentierter Erinnerung. Man kennt dieses Phänomen auch von Banküberfällen mit Geiselnahme. Das Großhirn hat nicht mehr die „Regie“; vielmehr übernehmen ältere Hirnteile die Steuerung. Dies geschieht einzig und allein zum Zweck des Überlebens. So erinnern Gewaltopfer manche (für die Strafverfolgungsbehörden unwesentlichen) Dinge bis ins Detail, andere (für die Strafverfolgungsbehörden wesentlichen) überhaupt nicht. Sie wurden einfach nicht abgespeichert.
Bei der Erinnerung des Täters läuft es freilich anders. Er hat sich entschieden, Gewalt auszuüben. Seine „normale“ Erinnerung dürfte funktionieren; freilich wird er kein Interesse daran haben, überführt zu werden.
Genau auf diese Weise kommen dann „Widersprüche und Ungereimtheiten“ zustande.
Anerkannte und nicht anerkannte Vergewaltigungsorte…
Ein weiteres typisches Merkmal finden wir in der Aussage des Verteidigers:
In einem gut besuchten Bad könne es am helllichten Tag unmöglich zu einer Vergewaltigung gekommen sein.
Hier haben wir den Klassiker, den Mythos von dunklen Orten und dem bösen schwarzen Mann. Die Tatsache, dass es – nicht nur im New York der 60er Jahre – selbst auf offener Straße am helllichten Tag zu einer Vergewaltigung kommen kann, ohne dass jemand hinsieht oder gar hilft, scheint nicht bekannt zu sein.
„in dubio pro reo“ = „in dubio contra victimam“
Und am Ende das übliche „in dubio pro reo“, das wie immer in ein implizites „in dubio contra victimam“ mündet; dem Opfer also falsche Anschuldigungen oder gar Lügen unterstellt. Doch das Schlimmste an dieser unseligen Verknüpfung ist, dass aus einer nicht verurteilten Tat nicht gefolgert werden kann, dass es nun kein Opfer mehr gibt!
Das wird grundsätzlich vergessen, und so wird die Gewaltüberlebende keinen Anspruch auf eine kostenlose Therapie, sonstige Hilfen oder gar eine Entschädigung bekommen. Sie kann ab jetzt zusehen, wie sie mit den Auswirkungen der Tat, den Erlebnissen vor Gericht und einem (mutmaßlichen) Täter auf freiem Fuß zurechtkommt.
„in dubio pro reo“ – aber die Opfer haben immer lebenslänglich!
Ganz fatal ist die Tatsache, dass Vergewaltiger in der Regel Wiederholungstäter sind. Meist haben sie bereits mehrere solcher Taten begangen und werden es auch weiterhin tun. Das nächste Mal nur etwas raffinierter. Ungestraft.
Die Gefahr, die durch solche Täter für Frauen und Mädchen – und damit für die gesamte Gesellschaft – ausgeht, wird jedoch konsequent ignoriert. Es gibt kein Konzept, keine präventive Idee, nicht den Ansatz einer Kontrolle; und dies sogar dann, wenn Staatsanwaltschaft und Richter erhebliche Zweifel hatten, als sie dann aber doch pro „in dubio pro reo“ entschieden.
Genau so lässt man die Gewaltspirale immer schön weiter laufen. Niemals zum Wohle der Opfer und dieser Gesellschaft.
++
Dazu auch hier:
Junge Welt
BuchTIPP – Ohne Respekt und Würde: sexualisierte Gewalt in Krieg und Frieden, im Internet und in der Familie – ihre mediale Darstellung und die Realität für die Opfer
Gerstendörfer, M., 2007, Der verlorene Kampf um die Wörter - Opferfeindliche Sprache bei sexualisierter Gewalt. Ein Plädoyer für eine angemessenere Sprachführung, Junfermann Verlag, Paderborn. ISBN 3-87387-641-8.
www.gerstendoerfer.de
User | Diskussion |
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MonikaGe | Geschrieben am: 30.04.2009 09:54 Aktualisiert: 30.04.2009 12:50 |
![]() ![]() User seit: 23.09.2008 aus: Beiträge: 74 |
![]() Danke für Deinen Kommentar, liebe Ghic.
Ich habe vorgestern Abend auch geweint. Bitterlich. Ich hatte eine Mail im Kasten, wo mir eine Studentin ihren Fall und den einer Kommilitonin schilderte. Der Fall der Kommilitonin ist so schrecklich, dass ich nach Abschalten des PCs eben in Tränen ausbrach. Es waren Tränen der Wut, der Trauer und des mitfühlenden Schmerzes. Und das, wo ich heuer 20 Jahre Menschenrechtsarbeit auf dem Buckel habe. Manche werfen mir sogar vor, dass ich „immer noch so emotional“ reagieren würde. Andere halten es gar für wenig professionell. Ich bin froh darüber! Denn dass ich professionell arbeite, weiß ich – eben auch WEIL ich ein ganzer Mensch geblieben bin; und dazu gehören nun mal Gefühle und Gefühlsäußerungen. Zu den Menschen, die das weit verbreitete, klassische „blaming the victim“ betreiben, den Opfern die Schuld oder zumindest eine Mitschuld zuschreiben: Das sind ganz arme Kreaturen. Ihnen fehlt die wichtigste menschliche Eigenschaft, die Empathiefähigkeit! Und was ihnen ebenfalls fehlt, das ist der Mut. Ich meine den Mut, sich einzulassen – auch, wenn es wehtun wird. Dabei ist es so wichtig, sich neben die Gewaltüberlebenden zu stellen und zu sagen: „Ich bin bei dir. Ich kann das Erlebte zwar nicht ungeschehen machen, aber ich kann bei dir sein und zu dir stehen, um dich zu stützen und zu verteidigen.“ Doch genau das ist den meisten Leuten zu anstrengend! Überdies würden sie sehr schnell die Erfahrung machen, dass sie bald selbst so abgebügelt werden wie die Gewaltopfer. Angriffe, Diffamierungen u.v.m. erleiden müssen. Darüber könnte ich ganze Arien singen! Oder die ewig blöde Frage: „Wieso machen Sie diese Arbeit? Sind Sie selbst auch betroffen?“ Das schreckt ab... Und hier noch ein Zitat aus dem Buch, das ich gerade schreibe. Ich finde, das beschreibt es klar: „Ein Opfer von Gewalt hat zu schwei¬gen, wenn es glaubwürdig sein soll. Denn wer noch reden und handeln kann, ist wohl nicht verletzt worden. Wobei ein schweigendes Opfer auch noch weitere Vorteile hat: alle anderen können ungestört ihre eigenen politischen Süppchen aus der Sache kochen. Dem Opfer, das öffentlich erklärt, Opfer zu sein, wird Stärke zugeschrieben und dass es andere verfolgt. Das handelnde Opfer ist eine Rolle, für die es noch kein Muster gibt.“ (Plogstedt & Bode) Also: erfinden wir dieses Muster und verteidigen es! Schweigen wir nicht! In diesem Sinne. Allerherzlichst Monika |
ghic | Geschrieben am: 29.04.2009 22:26 Aktualisiert: 30.04.2009 00:44 |
![]() ![]() User seit: 18.01.2008 aus: Braunschweig Beiträge: 124 |
![]() Monika,
ich habe lange überlegt, ob ich mich zu deinem Artikel äußern soll. Diese Art von Recht und GeRechtIgkeit hat sich nie verändert. Soll sie überhaupt jemals anders gewesen sein? Ich bezweifle es. Es liegt im Wesen der Frau benutzt zu werden, denken die Menschen. JA! Ich schreibe bewußt: Menschen, denn es sind nicht allein die Männer die davon überzeugt sind, daß eine Frau die vergewaltigt wird, selbst Schuld ist. Eine Frau die ich Freundin nannte machte mir vor fünfzehn Jahren den Vorwurf, daß der Mißbrauch an mir als Kind und Jugendliche im Grunde genommen meine Schuld war und sei, denn ihr sei das nicht passiert. Bei ihr hätte es einmal ein Onkel versucht und sie hätte ihn lautschreiend in die Flucht getrieben und seitdem sei er von der Familie nicht mehr eingeladen worden. Wie einfach die Welt doch sein kann für Frauen, findest du/findet ihr nicht?! Einfach laut schreien und alles kommt sofort ins Lot. Was also machen die Frauen falsch, die damit keinen Erfolg haben oder, oh Schreck, nicht einmal schreien (wollen/können)?! Tja, so gesehen sind es Worte in den Wind geschlagen, sich laut zu wundern über solche Zustände. Es ist bloß, daß mit beim davon Lesen oder Hören, stets übel wird und ich anfange, im günstigsten Falle, zu weinen. Meist kommt jedoch das Schweigen und der Rückzug. Ergo: ich bin und bleibe potentielles Opfer. Und ich bin überzeugt, ich bin bei weitem nicht die Einzige mit einem solchen Verhalten. Megäre oder Opferlamm - was noch, was dazwischen? Die Folgen tragen IMMER die Frauen, egal in welcher Form. Schließlich sind sie auch dafür verantwortlich. Es ist ihr Körper, zum benutzen gedacht und danach verschmäht und weggeworfen. Eine Seele - wer redet denn solchen Schmarren?! So, ich hätte doch lieber weiter geschwiegen, mir ist schlecht. Und ich schicke das Ding hier ab, bevor ich gegenlese. Ansonsten lösche ich es doch. Im Notfall: verzeiht mir. |
lunka | Geschrieben am: 28.04.2009 10:00 Aktualisiert: 28.04.2009 23:04 |
![]() ![]() User seit: 19.07.2007 aus: Beiträge: 1222 |
![]() unser Recht ist in manch einer Hinsicht dem Recht in einer Scharia doch irgendwo sehr ähnlich, oder? (ich kenne mich im Schariarecht nicht aus, es ist nur meine subjektive Annahme)
und zwar weil: Der Schwache (das Opfer) wird zum Täter abgestempelt (selbst schuld, nächstes Mal gehst du halt nicht ins Schwimmbad), der "Starke" (wobei nichts an echter Stärke in ihm drin ist) ist kein Täter, weil er schlüßiger argumetiert, eine gute Familie hat, ein angesehener Mann/Frau ist, die angeblich nie sowas tun werden und und und. In solchen Fällen hab ich nur eine Hofnung: das Leben wird's schon richten, der Täter, der kommt nicht unbestraft davon, es existiert so was wie Gerechtigkeit, evtl. nur im Wunschdenken, aber wenigstens da. |
Gast | Geschrieben am: 28.04.2009 09:57 Aktualisiert: 28.04.2009 23:03 |
![]() Dieser Fall wurde, wegen der räumlichen Nähe, in unserem Bekanntenkreis sehr kontrovers diskutiert. Schon da war ich sehr schockiert, wie sorglos viele meiner Bekannten, Freunde und Kollegen mit diesem Thema umgehen. Wie wenig sie darüber informiert sind und wie wenig vor allem Frauen hier solidarisch reagieren.
Wenn ich dann Kommentare höre wie „Sie wird ihm schon Anlass gegeben haben.“ Oder „Die jungen Mädchen müssen sich heutzutage nicht wundern, wenn sie vergewaltigt werden, wenn sie immer so freizügig herumlaufen.“, dann werde ich echt fuchsteufelswild. Hier sollte mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden darüber, was in den Frauen, Mädchen und evtl. jungen Männern vorgeht, die Opfer einer Vergewaltigung geworden sind. |
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