Monika Gerstendörfer - Ein Kommentar

Datum 27.04.2009 20:07 | Kategorie: Texte

Das Amtsgericht Hechingen sprach im März 2009 einen 30-Jährigen vom Vorwurf der Vergewaltigung einer 16-Jährigen frei. Er soll im Sommer 2006 das Mädchen in einem Schwimmbad vergewaltigt haben; mit nachfolgender Schwangerschaft.

= Quelle

Ein Kommentar von Monika Gerstendörfer
Der Fall ist wieder einmal typisch.

So fragte man sich, warum die Anzeige erst 2 Jahre danach erfolgte? Dass eine Vergewaltigung ein traumatisches, also ein lebensgefährliches Erlebnis ist und zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) führt, ist hier offensichtlich nicht bekannt gewesen.
Viele Opfer zeigen nie an; auch deshalb, weil sie wissen, was ihnen vor Gericht blüht, die Sache in der Regel wegen der klassischen Aussage-gegen-Aussage-Situation zu einem Freispruch des mutmaßlichen Täters führt.
Sollte ein Opfer sexualisierter Gewalt tatsächlich die Kraft finden, nach Jahren zu reden und gar Anzeige zu erstatten, so kann man dies als „halbes Wunder“ einordnen.
In diesem Fall kommt noch die „Zwangs“-Schwängerung hinzu, die mit Sicherheit zusätzliche traumatische Belastungen verursachte.
Eine Horrorvorstellung!

Opfererleben: „Das passiert jetzt nicht wirklich“
Viele Gewaltüberlebende wollen einfach nur vergessen. Sie ziehen sich vollkommen zurück.
Das Vergessen gelingt langfristig aber nicht. Früher oder später – nicht selten noch nach Jahrzehnten – kommen die traumatisierenden Ereignisse wieder hoch und können zu einem totalen seelischen Kollaps führen; manche Opfer begehen auch nach Jahrzehnten noch Suizid. Das liegt daran, dass sexualisierte Gewalt das Schlimmste ist, was man einem Menschen antun kann. Es ist ein Schwerbrechen, das man nicht mit „Geschlechtsverkehr“ umschreiben darf, weil diese Form der Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat. Weder für den Täter – geschweige denn für das Opfer.

Fragmentierte Erinnerung
Die Rechtfertigungen für den Freispruch sind ebenfalls typisch: So seien die Schilderungen von Täter und Opfer „widersprüchlich“, „nicht schlüssig“ gewesen; es habe „Ungereimtheiten“ gegeben.
Das ist jedoch nur logisch. In einer traumatischen Situation spricht man von sog. fragmentierter Erinnerung. Man kennt dieses Phänomen auch von Banküberfällen mit Geiselnahme. Das Großhirn hat nicht mehr die „Regie“; vielmehr übernehmen ältere Hirnteile die Steuerung. Dies geschieht einzig und allein zum Zweck des Überlebens. So erinnern Gewaltopfer manche (für die Strafverfolgungsbehörden unwesentlichen) Dinge bis ins Detail, andere (für die Strafverfolgungsbehörden wesentlichen) überhaupt nicht. Sie wurden einfach nicht abgespeichert.
Bei der Erinnerung des Täters läuft es freilich anders. Er hat sich entschieden, Gewalt auszuüben. Seine „normale“ Erinnerung dürfte funktionieren; freilich wird er kein Interesse daran haben, überführt zu werden.
Genau auf diese Weise kommen dann „Widersprüche und Ungereimtheiten“ zustande.

Anerkannte und nicht anerkannte Vergewaltigungsorte…
Ein weiteres typisches Merkmal finden wir in der Aussage des Verteidigers:
In einem gut besuchten Bad könne es am helllichten Tag unmöglich zu einer Vergewaltigung gekommen sein.
Hier haben wir den Klassiker, den Mythos von dunklen Orten und dem bösen schwarzen Mann. Die Tatsache, dass es – nicht nur im New York der 60er Jahre – selbst auf offener Straße am helllichten Tag zu einer Vergewaltigung kommen kann, ohne dass jemand hinsieht oder gar hilft, scheint nicht bekannt zu sein.

„in dubio pro reo“ = „in dubio contra victimam“
Und am Ende das übliche „in dubio pro reo“, das wie immer in ein implizites „in dubio contra victimam“ mündet; dem Opfer also falsche Anschuldigungen oder gar Lügen unterstellt. Doch das Schlimmste an dieser unseligen Verknüpfung ist, dass aus einer nicht verurteilten Tat nicht gefolgert werden kann, dass es nun kein Opfer mehr gibt!
Das wird grundsätzlich vergessen, und so wird die Gewaltüberlebende keinen Anspruch auf eine kostenlose Therapie, sonstige Hilfen oder gar eine Entschädigung bekommen. Sie kann ab jetzt zusehen, wie sie mit den Auswirkungen der Tat, den Erlebnissen vor Gericht und einem (mutmaßlichen) Täter auf freiem Fuß zurechtkommt.

„in dubio pro reo“ – aber die Opfer haben immer lebenslänglich!
Ganz fatal ist die Tatsache, dass Vergewaltiger in der Regel Wiederholungstäter sind. Meist haben sie bereits mehrere solcher Taten begangen und werden es auch weiterhin tun. Das nächste Mal nur etwas raffinierter. Ungestraft.
Die Gefahr, die durch solche Täter für Frauen und Mädchen – und damit für die gesamte Gesellschaft – ausgeht, wird jedoch konsequent ignoriert. Es gibt kein Konzept, keine präventive Idee, nicht den Ansatz einer Kontrolle; und dies sogar dann, wenn Staatsanwaltschaft und Richter erhebliche Zweifel hatten, als sie dann aber doch pro „in dubio pro reo“ entschieden.
Genau so lässt man die Gewaltspirale immer schön weiter laufen. Niemals zum Wohle der Opfer und dieser Gesellschaft.

++
Dazu auch hier:
Junge Welt

BuchTIPP – Ohne Respekt und Würde: sexualisierte Gewalt in Krieg und Frieden, im Internet und in der Familie – ihre mediale Darstellung und die Realität für die Opfer

Gerstendörfer, M., 2007, Der verlorene Kampf um die Wörter - Opferfeindliche Sprache bei sexualisierter Gewalt. Ein Plädoyer für eine angemessenere Sprachführung, Junfermann Verlag, Paderborn. ISBN 3-87387-641-8.
www.gerstendoerfer.de



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