
Barbara Bogon- Post aus Berlin
Datum 08.11.2006 09:41 | Kategorie: Texte
| Liebste Marie, Der Herbst ist angekommen und während Berlin die Kastanienbäume rettet, indem es ABM's und RBM's das Laub aufsammeln läßt, schichte ich mich zwiebelartig mit dem gesamten Bestand meines Kleiderschrankes, um ja nicht an einer Ampel festzufrieren. Das geht schnell, das mit dem Festfrieren meine ich. Ehe man sich versieht, steht man da...ohne Essen, ohne Trinken ohne Zuwendung, derart vom Eis fixiert, daß man noch nicht einmal in der Lage ist, freundlich beschwingt den Autos hinterher zu winken. Mit von Autoabgasen schwarz verfärbten und verklebten Popeln in der Nase, warte ich dann also bis der Frühling kommt...auftauen...vielleicht wegtauen...diesen Winter wird es so weit sein, ja, ich werde mit dem Schnee verschwinden...Super Aussichten. Ein Freund aus Heidelberg hat mal den Vorschlag gemacht, an jede Ampel dieses Landes Survivalpakete anzubringen...für mich, für den Notfall. Wie rührend. Bisher habe ich allerdings noch kein einziges dieser verfluchten Pakete gesehen. Scheiß auf Ernst Bloch "Die Hoffnung stirbt zuletzt"...hier geht's um das knallharte Überleben. Gut, es ist also nicht nur die Nachsommerwehe der WM und Sönke Wortmanns Geburt als Dokumentarfilmer, es ist auch der Herbst des Überlebens. Überleben heißt, auf vielen Ebenen bestehen können...da wäre die Geistige...die so hoch Geschätzte..."Erkenntnis" heißt das Zauberwort..."Bewußtwerdung"..."sich Zeit nehmen", weil "Zwang lähmt". Naja, fast schon spießig wage ich den stillen Einwand, daß "sich Zeit nehmen" auch verflixt teuer sein kann. Spätestens wenn die Uni anklopft und sagt: "Deine Selbstfindung kostet ab heute 650 Euro", ändert sich die Einstellung zum Leben, zur Wirtschaft, zum Bildungssystem. "Innere Freiheit" ist nicht eine Frage der Zeit, "innere Freiheit" ist eine Frage des Geldes. Aber Armut ist ja auch irgendwie malerisch...vermutlich ist alles eine Sache des Blickwinkels. Der Blick, der Winkel, die Hakenschläge. Zynismus und Sarkasmus bringen da auch nicht weiter, Selbstmitleid schon gar nicht. Zweimal in der Woche bin ich bei einer Therapeutin, die auch nur das feststellt, was viele andere vor ihr auch schon festgestellt haben, nämlich die Tatsache, daß ich mich selber nicht wertschätze. Und obwohl ich darum weiß, trifft mich diese Aussage einer objektiven Frau M. hart und unerbitterlich. Erst gestern bin ich bis in die Grundfeste erschüttert in die U-Bahn gestiegen...sie hat Recht: Ich habe zwei Hände, zwei Beine, einen Kopf, in dem sogar was drin ist, bin in Berlin, verdiene mein spärliches Geld mit Dingen die mir Spaß machen, gehe nicht putzen, nicht kellnern, führe eine Beziehung, was nicht jeder kann, kann teilen, bespaßen, bereichern und dennoch ist all das nicht aussreichend, nicht gut genug, um Geld zu verdienen, um mich gut zu fühlen. Talent und Kreativität reichen nicht aus...denn ohne Fleiß schließlich kein Preis. Ich muß mich halbtot machen um gut sein zu können. Und obwohl ich weiß, da ist ein Fehler in meinem System, will der Schalter einfach nicht umkippen. "Glaub an Deinen Wert"...würde ich gerne tun, wenn mir bitte schön mal jemand sagen könnte, wie das geht! Aber das ist naiv, darauf zu warten...es ist ein bißchen so, wie das hingebungsvolle festfrieren an der Ampel. Es liegt an mir...wenn ich in Bewegung bleibe, friere ich schließlich auch nicht fest. Hm, alles irgendwie leichter gesagt als getan...es ist an der Zeit, neu zu denken...auch was das Studium angeht, was ich als mir etwas sehr fremdes empfinde...meine Wahl war das alles vermutlich nicht...Prinzip "Leistung gegen Liebe"...wie soll ich mich da mit einem Studium identifizieren, mit einer Magisterarbeit, von dem/der ich mittlerweile nicht mehr glaube, es aus eigenen Stücken entschieden zu haben. "Wir haben die Wahl"...eben nicht immer... Statt meines Selbstbewußtseins, habe ich eben meinen Intellekt gepuscht..."alles für Papa"...das ist wesentlich schmerzfreier, als selbstbewußt den eigenen Weg zu gehen. Das heißt allerdings nicht, daß Bildung nicht weh tun kann. So ein Studium kann tiefe Wunden und großzügige Schneisen ins Selbstbewußtsein schlagen. Aber wo nichts ist, kann auch nichts geschlagen werden. Vermutlich hängt mein Selbstbewußtsein am blank polierten Garderobehaken des elterlichen Wohnsitzes. Da hängt es gut...sträflich vernachlässigt und als Lastenesel für "Jöppchen" und "Twin Sets" mißbraucht...mit der Angst, irgendwann im Altkleidersack zu landen. Manchmal ist es an der Zeit, sich mit den Unwägbarkeiten des Lebens anzufreunden, "Du" zu sagen, statt beim vornehmen "Sie" zu bleiben. "Sie, Herr Garderobenhaken, könnten Sie mir netterweise mein Selbstbewußtsein zurückgeben?" "Du, kleines Häufchen Elend, ich habe damit nichts zu tun. Ich hänge hier nur doof und dumm und ohne Selbstbestimmung rum und kann gar nichts dafür. Verantwortlich sind die anderen, die, die hier tagein tagaus an mir vorüber flanieren und auch mich keines Blickes würdigen. Ich bin eben nur ein Kleiderbügel." "Und ich bin eben nur das Kind dieser Garderobenhakenbesitzer." Es ist vielleicht an der Zeit konspirative Bande zu knüpfen...wenn es sein muß, auch mit Garderobenhaken. Die Kleiderhaken in meiner Wohnung sind allerdings nicht blank poliert, sie sind noch nicht einmal von Ikea und unterstützen einen Lifestyle, den ich nicht habe, geschweige denn tragen sie wohlklingende schwedische Namen wie Hensvik oder Markör. Identitäten lassen sich leider nicht zusammenzimmern, auch wenn Ikea das einen immer glauben lassen will. Die Suche nach sich selbst allerdings, beginnt vermutlich schon im Ballbad. Ballbad muß wie Krieg spielen sein. Statt bei groben Schlägereien um die Elfenrutsche die weiße Fahne zu schwenken, gilt es pädagogisch wertvoll und selbstbewußt "Die kleine Anna Maria Sophia will gerne zu ihrer Mutti" in das Mikrofon zu hauchen. Der Rückzug von der Front läßt Elternherzen entnervt schneller pochen...jetzt muß die UDDEN Modulküche eben ungesehen gekauft werden. Zur Strafe gibt's dann eine Portion Ritalin zusätzlich, so ist wenigstens die Heimfahrt mit dem Kombi gerettet, in dessen Kofferraum lediglich die üblichen Ikeamitbringsel lagern. Teelichter, Tischläufer, Duschvorleger. Die Küche wird geliefert, die Montage übernimmt dann der Herr des Hauses. Geld sparen...und so eine Küche baut sich ja auch eigentlich von alleine auf. An so einer Überschätzung der eigenen (Un-)Fähigkeiten leidet übrigens auch mein Vater. Natürlich sind nicht "die anderen verantwortlich"... das ist mir schon bewußt und umso ärgerlicher ist es, daß ich selber nicht die Kurve kriege. Es ist, als sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht...außer der alten Kastanie vor unserem Wohnzimmerfenster sehe ich, genau genommen, gar keine Bäume... Aber wie geht es Dir liebe Marie...du Bestsellerautorin?! Ich hoffe, Liebe, Leid und andere Laster halten sich die Waage und Du kannst befriedigt und glückselig die letzten Etappen dieses Jahres nehmen?! Ich würde mich sehr freuen, von dir zu lesen...oder zu hören...oder wer weiß...Dich zu sehen...hier in Berlin, dieser glitzernden, rasenden, herausfordernden Stadt, deren Schulden mich echt beeindrucken?! In diesem Sinne, Fühl Dich ganz warm umarmt, Babsi
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